Anthony Doerr: Alles Licht, das wir nicht sehen

Anthony Doerr: Alles Licht, das wir nicht sehen

Um der deutschen Besatzung zu entgehen, fliehen das blinde Mädchen Marie-Laure und ihr Vater, einem Angestellten des Pariser „Muséum National d’Histoire Naturelle“, zu ihrem vom ersten Weltkrieg traumatisierten Onkel nach Saint-Malo. Wie auch bereits in Paris, baut Marie-Laures Vater auch hier ein großes Modell der Stadt, damit sich das Mädchen in ihrer Umgebung besser zurechtfinden kann. Doch das Modell enthält mehr als nur Holzhäuser: in ihm schlummert versteckt einer der wertvollsten Schätze des Pariser Naturkundemuseums, der vor den Fängen der deutschen Besatzer in Sicherheit gebracht werden soll. Zur gleichen Zeit sucht der junge Werner Hauser im Dienste der Wehrmacht an der Ostfront nach illegalen Feindsendern. Als Waise im Ruhrpott ohne Aussicht auf ein besseres Leben aufgewachsen, verschaffen dem schmächtigen Jungen seine ausgezeichneten, elektrotechnischen Fähigkeiten Zugang zu höheren Kreisen, die ihm letztendlich zu einem Platz an einer Eliteschule verhelfen. Noch viel zu jung für den Krieg führt ihn seine Begabung im Dienste des Reiches tief in den Osten, dann aber wird seine kleine Spezialeinheit eines Tages nach Frankreich versetzt, um in Saint-Malo einen versteckten Sender der Resistance zu finden. Dieser Sender wird von Etienne, Marie-Laures Onkel betrieben.

Für diesen Roman bekam Anthony Doerr 2015 den Pulitzer-Preis. Ob dies gerechtfertigt war, mag ich nicht wirklich beurteilen, aber Alles Licht das wir nicht sehen ist ein großartiges Buch, das mir wirklich sehr gut gefallen hat. Das Schicksal der beiden Kinder erinnert mich spontan an zwei Kometen im Universum, die unabhängig und nichts voneinander wissend ihre Bahnen ziehen, bis sie irgendwann ganz zufällig an einem Ort für einem kurzen Moment zusammen treffen, um anschließend wieder ihrer eigenen Bahn zu folgen. Der ganze Roman scheint auf diesen einen Moment ausgerichtet und wir fiebern die ganze Zeit mit, wie dieser denn aussehen bzw. was er auslösen wird.

Sehr interessant fand ich den Aufbau mit den äußerst kurzen Kapiteln, die gelegentlich etwas gehetzt wirken, aber insgesamt den Eindruck erwecken, als ob man sich gleichzeitig an zwei verschiedenen Orten befindet. Fast parallel verfolgen wir die Wege der beiden, gänzlich unterschiedlichen Kinder, die in verfeindeten Ideologien aufwachsen und sich dadurch auszeichnen, dass sie gewissermaßen gleichermaßen blind sind: Marie-Laure für das Licht und Werner für eine Wahrheit, die er zunächst nicht begreifen will und kann. Doch unser Herz schlägt für beide Protagonisten, denn wie auch die liebenswerte Marie-Laure als auch der nicht unsympathische Werner stolpern unschuldig in die Wirren des zweiten Weltkrieges und müssen erst lernen, die Ereignisse richtig zu deuten um moralisch korrekte Entscheidungen treffen zu können – wobei die jeweilige Moral natürlich eng mit der Ideologie verwurzelt ist. Anthony Doerr versteht es dabei wunderbar, die Charaktere glaubhaft in ihrer eigenen Welt mit kindlichen Träumen und Erlebnissen aufwachsen zu lassen, so dass auch der Leser in dem atmosphärisch dichten Roman zwei Lebenswege verfolgen kann, deren richtungsweisenden Entschlüsse auf den Weggabelungen des Lebens schlüssig und verständlich sind. Es ist durchaus nachvollziehbar, das Anthony Doerr an diesem äußerst detaillierten und fast poetischen Roman zehn Jahre geschrieben hat.

Interessant auch die Darstellung des Krieges, die mir vielleicht manchmal ein wenig zu – ich mag fast sagen – harmlos ist. Richtiges Leiden wird ein wenig mit einer eher heroischen Sicht auf die Sache verklärt. Vielleicht eine typisch amerikanische Sicht auf die Dinge, die der Herkunft des Schriftstellers zuzuschreiben ist. Wir befinden uns sozusagen immer ein wenig hinter der Front und müssen uns um Gewehrkugeln und Granateneinschläge kaum sorgen – so wird aus einem Kriegsroman fast schon eine Abenteuergeschichte. Auf der einen Seite mag man sagen, dass dies gewissermaßen die beschränkte Sicht der Kinder auf das große Ganze widerspiegelt, andererseits verfälscht diese „weichgezeichnete“ Kriegsdarstellung auch ein wenig die ansonsten (gefühlt) realitätsnahe Beschreibung des Lebens der Kinder. Aber – um etwas selbstkritischer zu sein – vielleicht ist es ja auch nicht die Aufgabe des Romans, das Leiden zu visualisieren, denn es geht ja in erster Linie um den Werdegang der Beiden. Richtig hervorragend fand ich auch das Ende des Buches, welches eine Art Aufarbeitung der Geschichte durch die nachfolgende Generation beinhaltet. Ein würdiger Schluss, der den Protagonisten schon fast in ihrer eigenen Geschichte ein literarisches Denkmal setzt.

Anthony Doerrs Alles Licht, das wir nicht sehen ist ein wirklich großartiger Roman, der unsere Herzen berührt. Spannend, atmosphärisch dicht, mit einer großartiger Sprache und einem fast poetischen Blick auf die tragischen Erlebnisse der Protagonisten fesselt uns das Buch auf das Sofa und wir möchten nicht aufhören zu lesen, um endlich in Erfahrung zu bringen, wann sich die beiden kleinen, im Universum kreisenden Kometen endlich treffen. Ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass wir diesem Roman auch bald auf den Leinwänden der Kinos begegnen werden.

Unbedingt lesen! Oder das Hörbuch hören, das von Frank Arnold ausgezeichnet gelesen wurde.

Anthony Doerr
Alles Licht, das wir nicht sehen

Gebundene Ausgabe, 519 Seiten
Verlag: C.H.Beck
ISBN: 978-3406680632

Taschenbuch, 528 Seiten
Verlag: btb Verlag (11. Juli 2016)
ISBN: 978-3442749850

ungekürztes Hörbuch
Gesprochen von:
Frank Arnold
Spieldauer: 16 Std. 35 Min.
Anbieter: Audible GmbH

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