Eine Fotografin sucht im Zuge einer Recherche die letzten Überlebenden des Großen Brandes von Matheson, einem verheerenden Großfeuer vom 29. Juli 1916, während dem in Ontario große Waldgebiete und mehrere Siedlungen zerstört wurden und viele Menschen zu Tode kamen. Ihre Suche führt sie zu drei alten Männern, die ihren Lebensabend gemeinsam in der Abgeschiedenheit der kanadischen Wälder verbringen und die mit dem Leben in der Zivilisation abgeschlossen haben. Am Ziel angekommen muss sie jedoch feststellen, dass der Überlebende namens Boychuck, um den sich viele Legenden ranken, kurze Zeit zuvor gestorben ist. Von den beiden verbliebenen Einsiedlern erfährt die Fotografin nichts, was ihrer Recherche dienlich sein könnte, denn die alten freiheitsliebenden Männer hüten und schützen ihre verschworene Gemeinschaft und begegnen jedem Neuankömmling mit Misstrauen. Alles ändert sich, als eine zierliche alte Dame von über achtzig Jahren im Wald auftaucht. Sie verwandelt nicht nur das Leben der alten Eigenbrödler, sondern lüftet gemeinsam mit ihnen und der Fotografin das Geheimnis um die Geschichte des Überlebenden Boychuck – des Jungen, der aus Liebe tagelang durch die Flammen irrte.
Jocelyne Saucier hat einen wunderbaren Roman geschrieben, der so menschlich, so beseelt ist, wie ich selten einen gelesen habe. Er berührt unser Herz und wirkt noch lange nach dem Lesen nach. Insbesondere die Thematik der alternden Protagonisten, die ihren Lebensabend in selbstbestimmter Freiheit verbringen möchten, macht diesen Roman zu etwas ganz Besonderem. Es ist nicht nur eine Hommage an die Liebe, sondern auch ein Aufruf dafür, in Würde altern zu dürfen. Und das mit Leidenschaft!
Wir erfahren nicht unbedingt sehr viel über die Protagonisten und dennoch gewinnen sie unsere Sympathien auf allen Ebenen. Das wenige, das Saucier uns von ihnen verrät, reicht aus, um sich in ihrer Gegenwart wohl zu fühlen und mehr von ihren Schicksalen erfahren zu wollen. Vielleicht ist es sogar ein kleiner Nachteil, dass der Roman nur knapp 200 Seiten hat, denn wir würden gerne mehr erfahren. Mehr Details aus dem Leben der Beteiligten und mehr visuelle Eindrücke aus den Wäldern Kanadas. Auf der einen Seite schafft Saucier es wunderbar, die Handlung auf eine, etwas übertrieben ausgedrückt, Art Essenz oder Konzentrat zu verdichten, ohne dass man das Gefühl bekommt, es würde etwas fehlen oder gar übersprungen werden. Andererseits hätten es durchaus wenigstens 100 Seiten mehr sein dürfen, denn wir würden die Gruppe einfach gerne ein wenig länger auf ihrem Abenteuer begleiten dürfen. Eine intensivere Beschäftigung mit der Natur – Barbara Kingsolver hat uns z.B. in ihrem Buch Das Flugverhalten der Schmetterlinge mit wunderbaren Beschreibungen aus dem Wald erfreut – hätten da nicht gestört.
Aber wie sagt man so schön: in der Kürze liegt die Würze und so ist und bleibt Ein Leben mehr ein wahrlich zauberhafter Roman, originell und obwohl sich der Plot so gar nicht danach anhört: superspannend. Beim Lesen sollte man sich vielleicht den ein oder anderen Ratschlag zu Herzen nehmen: lesen Sie den Roman an einem gemütlichen Sonntag, lesen Sie ihn am Stück und legen Sie einige Taschentücher bereit, denn trotz aller Herzlichkeit und einem feinen, versteckten Humor ist es ein Roman, der uns trifft und bewegt.
Obwohl meine doch relativ kurze Rezension das nicht vermuten ließe, so ist Ein Leben mehr von Jocelyne Saucier sicherlich eines der Highlights meines Lesejahres! Es ist das erste Buch von ihr, was auf Deutsch übersetzt wurde, aber nicht das erste, welches sie geschrieben hat und so hoffe ich, bald mehr von ihr lesen zu können.
Jocelyne Saucier
Ein Leben mehr
Gebundene Ausgabe, 192 Seiten
Verlag: Insel Verlag
ISBN: 978-3458176527