Guylain Vignolles leidet unter seinem Job: ausgerechnet er, der große Bücherliebhaber, arbeitet in einer Papierverwertungsfabrik an einer riesigen Schreddermaschine, die täglich vor seinen Augen tonnenweise Literatur vernichtet. Am Ende seiner Schicht, wenn er die gefräßige Maschine reinigen muss, rettet er regelmäßig einzelne Buchseiten aus ihrem Schlund, die dessen herzloses Gemetzel überleben konnten, und sammelt diese. Und jeden Morgen um 6 Uhr 27, wenn er ihn die Bahn zur Arbeit fährt, zieht er diese literarischen Fragmente hervor und liest den anwesenden Fahrgästen daraus vor. Eine Seite nach der anderen. Egal ob die einzelnen Seiten ein Kochrezept beschreiben, philosophische Gedanken beinhalten oder einen Mord vermuten lassen. Eines Tages findet er beim Warten an der Haltestelle einen USB-Stick, dessen Inhalt zufällig eine Art Tagebuch einer jungen Frau ist, die eine ähnliche Einstellung zum Leben zu haben scheint, wie Guylain. Tief bewegt liest er auch dieses Werk den Mitreisenden vor, denn er erhofft sich dadurch, auf die Spur dieser Unbekannten zu kommen, die er unter allen Umständen finden muss, denn sie hat nicht nur die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer, sondern auch sein Herz gewonnen.
Manchmal, ja manchmal fehlen einem einfach die Worte, da man nicht mehr weiß, mit welchen Superlativen man ein wirklich großartiges Buch beschreiben kann (und im vergangenen Jahr habe ich einige wirklich gute Bücher gelesen). Die Geschichte des Guylain Vignolles ist dermaßen zauberhaft, humorvoll und herzergreifend, dass man sich das Buch nach dem Lesen unter das Kopfkissen legen mag, um besser Träumen zu können. Ein Debütroman, dessen Romantik uns Leser verzaubert, ohne jedoch schmalzig oder plump daher zu kommen. Das liegt wohl nicht nur an dem sympathischen Protagonisten, sondern auch an den liebevoll gestalteten Nebendarstellern, deren Skurrilität nur schwer zu übertreffen ist, angefangen von dem Wachmann Grimbert, der seine Konversation hauptsächlich mittels klassischer Verszeilen bestreitet, bis hin zu Guylains Freund Giuseppe, der seine verlorenen Beine in einem Gartenratgeber wiederfindet. Diese Randgeschichten sind Dank ihrer fast bizarren Ideen wiederum dermaßen humorvoll, dass es dem Leser beinahe vor Lachen die Tränen in die Augen treibt.
Jean-Paul Didierlaurents Le Liseur du 6 h 27 erinnert mich sehr an den Film Die fabelhafte Welt der Amélie, scheint doch Guylains Geschichte dem selben „Universum“ entsprungen zu sein. Wie im Film auch sucht der Protagonist anhand kleiner Fragmente seine große Liebe und bewegt sich inmitten kurioser Figuren in einer irgendwie verträumten Welt, in der auch noch dem schlimmsten Schicksalsschlag etwas Positives abgerungen werden kann. Ja selbst Guylains und Amélies Goldfische entwickeln parallele Verhaltensmuster, die ihrer Gesundheit nicht immer zuträglich sind. Nüchtern betrachtet sind sich beide Geschichten so ähnlich, dass böse Zungen behaupten könnten, dass Die Sehnsucht des Vorlesers gewissermaßen eine Kopie von Die fabelhafte Welt der Amélie ist. Das mag für die Stimmung und der Grundidee vielleicht teilweise zutreffen, jedoch hat Didierlaurent eine gänzlich eigenständige Geschichte mit sehr individuellen und liebevollen Charakteren geschaffen, die meines Erachtens eher als Ergänzung zu der fabelhaften Welt der Amélie denn als Kopie zu verstehen ist.
Und so ist Die Sehnsucht des Vorlesers trotz einiger Parallelen ein dennoch eigenständiges, wirklich zauberhaftes und sehr lesenswertes Buch, das dem geneigten Leser zu einem sehr vergnüglichen Lesenachmittag verhilft, an dessen Ende es ihm so richtig schwer fallen wird, nach der letzten Seite das Buch einfach zuzuschlagen und in das Bücherregal zu stellen.
Für mich war es ein sehr heiterer und gelungener Start ins neue Lese-Jahr.
Jean-Paul Didierlaurent
Die Sehnsucht des Vorlesers
Broschierte Ausgabe, 224 Seiten
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft (22. September 2015)
ISBN: 978-3423260787