Nach dem großen Erdbeben vom Februar 2011 in Christchurch fährt Lloyd Jones in die Stadt und begibt sich auf Spurensuche. Was er dabei findet, sind lange vergessene Fragmente der Vergangenheit des Landes, die mit den Fragmenten seiner Familiengeschichte eng verwoben sind. Auf diese Weise wird seine Betrachtung der Stadt zu einer Suche nach seiner eigenen Vergangenheit; über seine Großeltern wurde beharrlich geschwiegen, er hat sie nie kennen gelernt. Diese Suche führt ihn durch Neuseeland bis nach Pembroke Docke in Wales, wo seine Familiengeschichte ihren Ursprung nahm, als seine Großmutter (mütterlicherseits) und sein Großvater (väterlicherseits) aufbrachen, um ihr Glück am anderen Ende der Welt zu versuchen. Seine Großmutter kam als Gouvernante einer Familie mit nach Neuseeland, wo sie nach einiger Zeit eine neue Anstellung fand. Als sie nach einiger Zeit unehelich schwanger wurde, erfand sie ihre Geschichte neu und inszenierte sich als Witwe, die mit ihrem kleinen Kind zurückgeblieben war. Ihr neuer Mann kam allerdings hinter das Geheimnis und so begann das Familiendrama: vom Stiefvater abgelehnt kam die Mutter zu einer Pflegefamilie, wurde zurückgeholt und am Ende doch wieder abgegeben, ein Trauma, das sie nie wirklich verwunden hat und das die Geschichte der Familie für immer prägen sollte…
Jones‘ Buch verbindet Familiengeschichte und Landesgeschichte auf eine spannende und faszinierende Weise miteinander. Herausgekommen ist ein sehr persönliches und poetisches Buch über das Herausbrechen einer Vergangenheit, die längst vergessen geglaubt war. An vielen Stellen wird deutlich, welche Bedeutung die Vergangenheit für das Verstehen der Gegenwart hat. Das Verhalten der Mutter war nie ganz einleuchtend, bis herauskam, was sie als Kind alles erleiden musste. Auch die Abneigung gegen die Großmutter schien gefestigt, bis alte Briefe und Gerichtsdokumente verdeutlichen, wie sehr sie unter dem Stigma der unehelichen Mutterschaft und den Misshandlungen ihres Ehemannes gelitten hat. Das Ausgraben dieser Aspekte des großmütterlichen Lebens eröffnet dem Autor eine ganz neue Sicht auf die Dynamiken in seiner Familie und führt zu guter Letzt dazu, dass er, nachdem er herausfindet, wer der leibliche Vater seiner Mutter war, auch neue Familienmitglieder dazugewinnt, die von der Geschichte ebenso überrascht und fasziniert sind wie er selbst.
Auch wenn man solcherlei „Selbstfindungsgeschichten“ im weitesten Sinne nicht so viel abgewinnen kann, muss an dieser Stelle angefügt werden, dass man beim Lesen zeitweilen vergisst, keinen fiktiven Roman zu lesen. Die Geschichte ist an vielen Stellen so spannend, dass man richtiggehend hineingezogen wird und erinnert tatsächlich gelegentlich an das im Buch öfter anzitierte Werk „Der scharlachrote Buchstabe“ von Nathaniel Hawthorne. Allerdings muss man auch sagen, dass die Stimmung des Buches ziemlich bedrückend ist. Sowohl die Kulisse der vom Erdbeben zerstörten Stadt, als auch die Geschichte der zerrütteten Familie haben eine beklemmende Wirkung, gerade weil sie nicht frei erfunden sind. Da ich eine Vorliebe für melancholische Bücher mit beklemmender Wirkung habe, hat mir dieser Aspekt sehr gut gefallen, die Stimmung ist wirklich sehr gut eingefangen. Alles in allem war es ein schönes Leseerlebnis.
Lloyd Jones
Geschichte der Stille
Hardcover, 288 Seiten
Verlag: Rowohlt
ISBN: 978-3644034815