Charleston im Jahre 1803: zu ihrem elften Geburtstag bekommt Sarah, die Tochter des Richters und Plantagenbesitzers Grimké, eine Sklavin zum Geschenk. Die ein Jahr jüngere Hetty „Handful“ soll Sarah künftig als Zofe zur Seite stehen. Sarah verweigert das Geschenk, da sie die Sklavenhaltung nicht unterstützen will, jedoch hat sie keine Möglichkeit, Hetty die Freiheit zu schenken. Um zu verhindern, dass Hetty unter die Befehlsgewalt von Sarahs despotischer Mutter fällt, beschließt Sarah ihr auf andere Weise zu helfen und bringt ihr das Lesen bei. So beginnt eine Art Freundschaft zwischen den beiden Mädchen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Beide träumen davon, das sie im Leben für höhere Ziele bestimmt sind, doch unterliegen sie den gesellschaftlichen Schranken und ihre Träume bleiben unerreichbar. Während Hetty weiterhin im Hause Grimké als Sklavin ihren Dienst verrichten muss, sucht die heranwachsende Sarah jede sich bietende Möglichkeit, gegen die Sklaverei anzugehen. Bei einer Reise in den Norden, auf der sie ihren schwerkranken Vater begleitet, kommt sie schließlich in Kontakt mit Quäkern, denen sie sich nach einiger Zeit auf Grund deren ablehnender Einstellung zu Sklaverei anschließt. Doch beten geht ihr nicht weit genug und so entscheidet sich Sarah gemeinsam mit ihrer jüngeren Schwester Angelina, die ein ebenso rebellisches Wesen inne hat, ihre Meinung auch öffentlich zu vertreten. Derweil beginnt sich Hetty, gezwungenermaßen in Sarahs Heimat Charleston zurückgeblieben, für einen bewaffneten Widerstand zu interessieren.
Zunächst hört sich der Klappentext an, als ob Sue Monk Kidd uns mit einer einfachen Geschichte über eine Freundschaft beehrt, doch entpuppt sich der Inhalt als vielschichtiger, als man es auf den ersten Blick vermuten mag. Die Freundschaft zwischen Sarah und Hetty ist mehr als problematisch und wird auch keineswegs durch eine rosarote Brille betrachtet, sondern mit all ihren Schwierigkeiten beleuchtet. So erkennen beide Frauen ihre durch gesellschaftliche Normen gesteckte Grenzen, die zwar eine tiefe Zuneigung zulassen, aber an den jeweiligen Lebenssituationen nicht wirklich etwas ändern können. Hetty bleibt Sklavin, Sarah bleibt die Tochter eines Gutsbesitzers. Dieser existentielle Unterschied führt auch zu schlechten Zeiten, in denen die Freundschaft des öfteren auf eine harte Probe gestellt wird. Erst auf den letzten Seiten scheinen den durchweg sympathischen Protagonistinnen jene Flügel zu wachsen, mit denen sie zu höherem Glück fliegen können.
Vielleicht ist mir das Buch gelegentlich zu „religiös“, da die Glaubensfindung von Sarah in der Entwicklung der Geschehnisse eine wesentliche Rolle spielt. Ich lies mich aber dahingehend belehren, dass es (insbesondere für Frauen) in dieser Zeit wohl einfach so war. Aber gestört hat es mich letztendlich auch nicht, da dadurch auch sehr viel historisch interessante Hintergründe zu Gesellschaft, Religion und Politik in die Erzählung integriert sind und man einen guten Gesamteindruck der Zustände kurz vor dem amerikanischen Sezzesionskrieg (1861 – 1865) erhält. So bleibt es dann auch nicht aus, dass uns auf vielen Seiten eine äußerst drückende Stimmung begegnet und wir uns irgendwann nach einem Silberstreif am Horizont sehnen, der aber lange auf sich warten lässt.
Dank des (aus meiner Sicht) weiblichen Erzählstils von Sue Monk Kidd bleiben uns all zu blutige oder brutale Details erspart. Dennoch gibt sie aber dem Grauen der Sklaverei ein Gesicht und beschreibt die Verbrechen an der Menschlichkeit auf eine unverfälschte und deutliche Art und Weise. Interessant auch die Beleuchtung der Stellung der Frau, deren einziger Lebenszweck eigentlich nur darin besteht, ihrem künftigen Ehemann zu gefallen und seinen Wünschen zu entsprechen. Und so ist Die Erfindung der Flügel eigentlich die Geschichte von zwei Sklavinnen, von der die eine in einem goldenen Käfig flattert und die andere mit rostigen Ketten leben muss.
Ein feines Buch, das gelesen werden mag. Ein äußerst spannendes noch dazu!
In der (fantastischen) Hörbuchversionen werden die Passagen von Sarah und Hetty von verschiedenen Frauen gelesen: Inka Friedrich und Bibiana Beglau. Zwei hervorragende, gänzlich individuelle Stimmen, die so unverwechselbar und so glänzend vorlesen, dass man mühelos von der Sklaven- in die Gutsherrenwelt und umgekehrt wechselt. Ein sehr empfehlenswertes Hörerlebnis!
Sue Monk Kidd
Die Erfindung der Flügel
Buchausgabe:
Gebundene Ausgabe, 496 Seiten
Verlag: btb Verlag
ISBN: 978-3442754854
Hörbuch:
Gesprochen von Inka Friedrich, Bibiana Beglau
Spieldauer: 13 Std. 34 Min. (ungekürztes Hörbuch)
Anbieter: Der Hörverlag