Christina Baker Kline: Der Zug der Waisen

Christina Baker Kline: Der Zug der Waisen

Die rebellische, 17-jährige Molly mit indianischen Wurzeln hat ihren Vater verloren, ihre Mutter sitzt im Gefängnis und sie selbst ist in einer Pflegefamilie untergebracht, wobei das Verhältnis als nicht gerade herzlich bezeichnet werden kann. Die Lage spitzt sich zu, als Molly in einer Bibliothek beim Diebstahl erwischt wird und zu 50 Stunden Sozialdienst verurteilt wird. Durch Zufall kann sie diese bei der 91-jährigen Vivian ableisten, die eine Hilfe zum Ausmisten ihres Speichers benötigt. Was zunächst wie eine unangenehm staubige und dreckige Arbeit aussieht, entpuppt sich bald als Fundgrube an spannenden Erinnerungen, denn nach jeder staubigen Kiste öffnet Vivian ihren Geist ein wenig mehr und gewährt Molly immer tiefere Einblicke in ihre Lebensgeschichte, für die Molly immer größeres Interesse zeigt, denn sie haben trotz des Altersunterschiedes eine Gemeinsamkeit: ein Leben in Pflegefamilien. Vivian verliert im Jahre 1929 bei einem Wohnungsbrand ihre ganze Familie und strandet in einer neuen Welt, in die ihre Familie erst kurz zuvor aus Irland eingewandert ist. Gemeinsam mit anderen Waisen wird Vivian mit einem Zug in den Westen geschickt und an Bahnhöfen fast wie Waren als Haushalts- oder Farmersgehilfen angepriesen. Dabei verliert sie nicht nur neu gewonnene Freunde, sondern auch die Hoffnung auf eine glückliche Zukunft, denn ein liebevolles Heim können nur die wenigsten Waisen erwarten. Für die junge Vivian wird es eine Reise ins Ungewisse, verbunden mit Bitterkeit, Enttäuschungen und Schicksalsschlägen. Ihre Begegnung mit Molly hilft Vivian, nach vielen Jahren ihr Schweigen zu brechen und die Vergangenheit zu verarbeiten.

Dieses Buch berührt unser Herz. Wir können es nicht einfach nach dem Lesen zuklappen und in den Schrank stellen, sondern halten es in den Händen und denken uns, dass es einen ganz besonderen Platz verdient hat, im Bücherschrank als auch in unseren Erinnerungen. Nicht, dass dieser Roman in besonders ausgefeilter Sprache geschrieben wäre oder uns mit reißerischer Spannung überrascht. Nein. Es ist ein eher „leises“ Buch, das zum Nachdenken anregt und uns ohne kitschig zu werden, emotional so sehr berührt, dass wir auf den letzten Seiten feuchte Augen bekommen. Die Rahmenhandlung – Mollys rebellisches Leben, ihre Schwierigkeiten mit den Pflegeeltern und ihre Sozialstunden – ist harmonisch und plausibel im Kontext verankert und scheint gewissermaßen durch ein ähnliches Schicksal, wenn auch ein weniger dramatisches, mit Vivians Leben verbunden zu sein. Und während Anfangs Vivians Erinnerungen Mollys Erlebnisse regelrecht durchbrechen und der Leser noch nicht erfährt, warum sie das eigentlich tun, nähern sich die Rahmenhandlung und Vivians Episoden immer weiter an, bis sie sich zu einem Zeitpunkt im Roman treffen, an dem Molly ein solch großes Interesse an Vivians Schicksal gewinnt, dass sie durch aktive Nachforschungen selbst die Lücken in Vivians Biografie zu schließen versucht. In etwa hier erfährt auch der Leser, dass durch die beim Speicherausräumen zufällig gefundenen Andenken bei Vivian Erinnerungen auslösen, die letztendlich zu einer Projektarbeit von Molly für die Schule münden, mit der sie einen fast vergessenen Teil von Amerikas Geschichte neu beleuchten will.

Jene Geschichte ist erschütternd, traurig, teilweise unmenschlich und aus heutiger Sicht nur schwer begreifbar. Zwar sind Vivian und Molly nur fiktive Gestalten, aber dennoch ist gerade Vivians Schicksal ein eher dunkles Kapitel der US-amerikanischen Geschichte. Zwischen 1853 und 1929 wurden mit sogenannten „Orphan Trains“ ca. 250.000 Waisenkinder aus östlichen Großstädten der USA in den mittleren Westen geschickt, um dort an Familien vergeben zu werden. Doch suchten diese kein Kind zum Liebhaben, sondern unbezahlte Arbeitskräfte für ihr eigenes Heim, die Farm oder den Betrieb. Zwar war die Aufnahme eines Kindes mit der Verpflichtung verbunden, es in die Schule zu schicken, doch daran hielten sich die wenigsten Pflegefamilien. Eine kontrollierende Instanz oder eine soziale Absicherung der Kinder gab es nicht, so dass ein Großteil von ihnen unter unmenschlichen Bedingungen leben musste. Verstärkt wurde das Missfallen gegenüber den Kindern durch die Tatsache, dass sie fast alle als rebellische und schlecht erzogene Kinder von Flüchtlingsfamilien galten. Ihre „Haltung“ als regelrechte Sklaven erfolgte daher auch aus einem Gedanken von einer korrekten, christlichen Erziehung mit fragwürdigen Werten und Methoden zur Wiedereingliederung eines „verdorbenen“ Kindes in die Gesellschaft. Nur die jüngsten Waisen im Babyalter hatten vermutlich eine Chance darauf, tatsächlich als Familienmitglied akzeptiert zu werden und in einem entsprechend sozial stabilen Gefüge mit Liebe aufzuwachsen. Um den Rest scherten sich die Wenigsten.

So finden wir in Der Zug der Waisen dann auch jede Menge Traurigkeit und Bitterkeit, aber auch Hoffnung und Glück in unerwarteten Momenten. Ein wirklich sehr lesenswertes Buch, das sehr zum Nachdenken über Werte und Nachforschen über Schicksale anregt, vielleicht – oder besser – gerade deswegen auch für die jüngere Generation sehr gut geeignet.

Christina Baker Kline ist eine bei uns recht unbekannte Autorin. Sie hat Literatur und Kreatives Schreiben unterrichtet und sich als Buchautorin und Herausgeberin von Anthologien einen Namen gemacht. Ihr Roman “Der Zug der Waisen” war in den USA ein großer Erfolg und hielt sich monatelang an der Spitze der New-York-Times-Bestsellerliste. Mit ihrem Mann und ihren drei Söhnen lebt die Autorin in Montclair, New Jersey. Ursprünglich kam sie aus England.

Christina Baker Kline
Der Zug der Waisen

Gebundene Ausgabe: 352 Seiten
Verlag: Goldmann Verlag (10. November 2014)
ISBN: 978-3442313839

Mehr zu den Waisenzügen:
› „Orphan Train“ bei Wikipedia (englisch)
› The National Orphan Train Complex (englisch)

Mehr zu den Penobscot-Indianern (Mollys indianische Wurzeln):
› „Penobscot“ bei Wikipedia