Quo vadis Berichterstattung

Quo vadis Berichterstattung

Normalerweise ist dieser Blog für fiktive Literatur gedacht. Heute allerdings mache ich ein Mal eine Ausnahme, weil es ein paar Dinge gibt, die einfach rausmüssen. Betreffend der Art und Weise, wie mit den Informationen zur Situation der Menschen an den Grenzen Europas umgegangen wird (ich möchte sie nicht “Flüchtlinge” nennen, weil ich finde, dass dieser Begriff eine heterogene Gruppe von Menschen auf einzig den Faktor, dass sie ihr Heimatland verlassen mussten, reduziert).

Mir ist aufgefallen, dass sämtliche Zeitungen sich im Moment scheinbar überbieten möchten, um möglichst viele und möglichst aktuelle Informationen zu liefern und dass diese Informationen auch sofort fleißig auf Twitter geteilt werden. Einerseits ist es durchaus verständlich und auch positiv, dass viele Menschen Anteil am Schicksal Anderer nehmen und interessiert an dem sind, was in Syrien, Griechenland, Ungarn und anderen Ländern passiert. Andererseits frage ich mich immer öfter, wo Anteilnahme aufhört und Sensationslust anfängt. Einige Zeitungen gehen so weit, auf ihren Onlineportalen “Live-Ticker” einzuführen, die quasi im Minutentakt neue Nachrichten von den Grenzen veröffentlichen. Dies ist aus mehreren Gründen problematisch: der offensichtlichste ist, dass Informationen, die so schnell weitergegeben werden, nicht ordentlich recherchiert sein können. Und so gelangen auch Behauptungen an die Öffentlichkeit, die unter Umständen schlicht falsch sind. So tauchte bei RTL heute die Meldung auf, an der deutsch-österreichischen Grenze seien Schüsse seitens der Polizei gefallen. Dass die Polizei dies dementierte, war nur in einem Halbsatz erwähnt, die Schlagzeile war dafür um so reißerischer. Offensichtlich hat der betreffende Redakteur sich kaum bis keine Gedanken darüber gemacht, welche Wirkung so eine Meldung haben kann. Vor allem unter jenen, die versuchen, über diese Grenze zu kommen- und die im Allgemeinen gut vernetzt sind- könnte solch eine Falschmeldung zu weiterer Panik und Eskalation der Lage führen.

Einen weiteren Problempunkt sehe ich darin, dass dieser „Overflow“ an Meldungen und Bildern den Zuschauer auf Dauer abstumpfen lässt und so entsteht ein Phänomen, dass man auch in einigen Kunstgenres seit langer Zeit beobachten kann: je mehr und öfter die Menschen mit etwas konfrontiert werden, desto intensiver und schockierender muss eine Meldung sein, damit sie noch Emotionen hervorruft und so werden immer schlimmere Bilder, wie das des ertrunkenen Jungen, und immer schlimmere Neuigkeiten „herausgefischt“, um immer mehr Klicks zu bekommen als konkurrierende Berichterstatter. Wie glaubwürdig all diese im Wahnsinnstempo veröffentlichten Informationen noch sind, bleibt fragwürdig. Das führt zu einem weiteren, dem Journalismus schon länger bekannten Problem: je öfter Meldungen sich als falsch herausstellen und widerrufen werden müssen, desto mehr sinkt die Glaubwürdigkeit und das wiederum spielt den Hetzern gegen die „Mainstream-Lügen-Presse“ hervorragend in die Hände und bietet Nährboden für diverse Arten von Propaganda.

Ich weiß, dass der Journalismus sich durch das Internet und die stärker werdende Nachfrage nach Informationen stark verändert. Der Konkurrenzkampf ist hart und man buhlt um jeden Leser. Die Frage ist, ob das die gründlichere Recherche wirklich zu Gunsten der Schnelligkeit vernachlässigen sollte. Nachrichten haben nach wie vor einen großen Einfluss auf die Meinung und das Verhalten der Menschen, der nicht unterschätzt werden sollte. Daraus resultiert allerdings meiner Meinung nach auch eine gewisse Verantwortung. Aber den schwarzen Peter den Journalisten zuzuschieben ist ebenso wenig richtig. Auch als Leser beziehungsweise Konsument sollte man öfter einmal innehalten und sich fragen, wie glaubwürdig die Quellen sind, denen man seine Informationen entnimmt, wie viel und vor allem was man über soziale Netzwerke teilen möchte. An einigen Tagen schotte ich mich mittlerweile vollkommen von den Nachrichten ab. Nicht, weil es mich nicht interessiert, ganz im Gegenteil, als Flüchtling des Jugoslawien-Krieges berührt die aktuelle Situation mich sehr. Doch es ist mir aufgefallen, dass selbst ich mich gelegentlich aktiv daran erinnern musste, dass einzelne Menschen mit individuellen Schicksalen hinter den Nachrichten stehen. Versteht mich nicht falsch, hinzusehen, mitzuhelfen, über das Problem zu reden ist gut und richtig, aber die Art und Weise, wie es getan wird, hat zu manchen Zeitpunkten etwas schon fast dystopisches: Da kämpfen tausende Menschen um ihr Überleben, leiden Hunger und Kälte und die Informationen darüber werden in einen „Live-Ticker“ gepackt wie bei einer Fußballübertragung. Hier wird der Grat zwischen Anteilnahme und Sensationslust ganz, ganz dünn. Braucht man wirklich Bilder des Leids im Minutentakt? Gerade bei einem solch emotionalen Thema neigt der Mensch dazu, sich von dem, was er sieht und hört, mitreißen zu lassen. Wie gesagt, das halte ich per se für eine gute Eigenschaft, doch sie wird dann problematisch, wenn die (Selbst-)Reflexion aussetzt. Zu viel des Guten kann leider auch schnell in das Gegenteil umschlagen und kontraproduktiv werden, wenn man es nicht mit Bedacht einsetzt.

Tags: Flucht Presse