Haruki Murakami: Die unheimliche Bibliothek

Haruki Murakami: Die unheimliche Bibliothek

Eine Bücherei, irgendwo und irgendwann. Nachdem ein Junge seine geliehenen Bücher wie immer fristgerecht abgegeben hat, will er noch ein wenig nach weiterem Lesestoff stöbern. Dabei gerät er an einen seltsamen Bibliothekar, der ihn, anstatt in einen gut beleuchteten Lesesaal, in ein dunkles Labyrinth unterhalb der Bücherei führt und den Jungen anschließend in ein Lese-Verlies einsperrt, in dem er bleiben muss, bis er die von ihm selbst ausgesuchten Bücher gelesen hat. Versorgt wird der angekettete Junge mit Tee und köstlichen Donuts – gebracht von einem seltsamen Mann im Schafspelz und einem hübschen, jungen Mädchen, das zwar stumm ist, aber dafür mit den Händen reden kann. Nachdem der Junge das Vertrauen der beiden gewinnen kann, planen sie die gemeinsame Flucht aus der seltsamen Bücherei.

Haruki Murakamis Kurzgeschichte erinnert mich an den durch Kafka geprägten Ausdruck der Türhütergeschichte (auch Türhüterlegende oder Türhüterparabel), der durch Kafkas Prosatext Vor dem Gesetz von 1915 geprägt wurde, dem einzigen Auszug aus Der Process, der von Kafka selbst veröffentlicht wurde. Für Kafka war unter anderem die Tür einer der zentralen Orte seiner Handlungen, an dem sich der Protagonist durch das Passieren derselben in eine für ihn nicht mehr beherrschbare Situation begibt und dem folgenden Geschehen tragisch ausgeliefert ist (wobei in Kafkas Text der Protagonist nicht durch die Tür kommt, sondern am hartnäckigen Türhüter scheitert). Ähnliches erleben wir in der unheimlichen Bibliothek, in der der Junge, obwohl er sich gedanklich dagegen wehrt, dennoch nahezu blind den Anweisungen anderer folgt und sehenden Auges durch diverse Türen in absurde Umstände stolpert, denen er hilflos ausgeliefert ist. Hinzu kommt die daraus resultierende Verzweiflung, die er aus der Angst heraus empfindet, seine Mutter nicht mehr sehen zu können, denn der Rückweg durch eben diese Türen scheint für immer verschlossen zu sein. Murakamis Geschichte lässt sich auch mit dem 1973 im Duden aufgenommenen Begriff kafkaesk beschreiben, der (nach Wikipedia) für „Situationen und diffuse Erfahrungen der Angst, Unsicherheit und Entfremdung“ sowie dem Ausgeliefertseins an anonyme und bürokratische Mächte, der Absurdität, der Ausweg- und Sinnlosigkeit sowie Schuld und innere Verzweiflung steht. Mit gewohnter Leichtigkeit jongliert Murakami dabei mit der Sprache und formt sie zu einer skurrilen und zugleich einfühlsamen Geschichte mit feinen Details, unterschiedlichsten Ebenen und einem sehr nachdenklichem Ende.

Das besondere an diesem Buch – dies gilt sowohl für die deutsche, als auch die englische Ausgabe – ist die kunstvolle Ausgestaltung. Die deutsche Ausgabe ist mit sehr stimmungsvollen und passenden Illustrationen geschmückt, die von der deutschen Illustratorin und Comic-Künstlerin Kat Meschnik gestaltet wurden. Sie schafft es insbesondere durch die Nutzung großflächiger Schwarzräume, die düstere Stimmung des Buches hervorragend wieder zu geben. Die englische Ausgabe dagegen, haptisch etwas hochwertiger, wurde auf jeder Doppelseite anders gestaltet, teils durch passende Illustrationen oder durch größtenteils historisch anmutenden Skizzen, in die der Text oftmals bildhaft ergänzt oder integriert wurde. So wechseln bunte und farblose Seiten zu einer Art literarischen Collage, die den Eindruck vermittelt, als ob die wenigen Seiten versuchen würden, den Inhalt einer ganze Bibliothek widerspiegeln zu wollen. Die englische Ausgabe kommt daher im Gegensatz zu der doch sehr düsteren, deutschen Ausgabe etwas „fröhlicher“ daher, verfälscht aber ein wenig die kafkaeske Wirkung.

Ein Blick in beide Ausgaben lohnt sich gerade hinsichtlich der vollkommen unterschiedlichen, grafischen Aufarbeitung der Geschichte. Ein empfehlenswertes (Bilder-)Buch für Erwachsene, die Freude an hervorragenden Grafiken haben, aber auch eine gute Sprache schätzen.

Haruki Murakami
Die unheimliche Bibliothek

Mit Illustrationen von Kat Menschik

Gebundene Ausgabe, 64 Seiten
Verlag: Dumont Buchverlag; Auflage: 1 (26. August 2013)
Sprache: Deutsch
ISBN: 978-3832197179

Haruki Murakami
The strange library

Illustrierte Ausgabe

Gebundene Ausgabe, 88 Seiten
Verlag: Harvill Secker (2. Dezember 2014)
Sprache: Englisch
ISBN-13: 978-1846559211