Der Sonderermittler Ding Gou’er hat einen heiklen Fall zu lösen. In einer entlegenen Provinz Chinas sollen Gerüchten nach dekadente Parteifunktionäre kleine Kinder nach allen Regeln der Kochkunst zubereiten lassen. Ding Gou’er wird zur Aufklärung und Wahrheitssuche nach Jiuguo, der sogenannten „Schnapsstadt“, geschickt und findet sich in einer Welt wieder, deren gesellschaftlichen Regeln der alkoholischen Gärung unterliegen. Seine anfängliche Selbstsicherheit und sein scheinbar unerschütterliches Verantwortungsbewusstsein werden schon sehr bald nach seiner Ankunft auf hochprozentige Proben gestellt.
Mo Yan ist der Künstlername von Guan Moye und bedeutet soviel wie „Sprich nicht!“. Guan Moye wählte ihn, da seine Eltern ihm in gefährlichen Zeiten beigebracht hatten, draußen den Mund zu halten, um keinen Ärger zu bekommen. 1955 als Bauernsohn auf die Welt gekommen, verließ er während der Kulturrevolution mit 12 Jahren die Schule um in einer Fabrik zu arbeiten. 1976 trat er in die Volksbefreiungsarmee ein und bereits 1984 begann er, in der Literaturabteilung der Kulturakademie zu unterrichten. 1986 schloss er sein Studium an der Kunsthochschule der Volksbefreiungsarmee ab. Der Werdegang lässt vermuten, das Guan Moye nicht gerade als Oppositioneller gehandelt werden kann. Dies ist einer der Kritikpunkte zu dem an Moye 2012 vergebenen Nobelpreises für Literatur, die insbesondere der Künstler Ai Weiwei gegenüber der Tageszeitung Die Welt äußerte: „Ich akzeptiere das politische Verhalten von Mo in der Realität nicht. Er ist möglicherweise ein guter Schriftsteller. Aber er ist kein Intellektueller, der die heutige chinesische Zeit vertreten kann.“ Interessant auch die Meinung des im Exil in Deutschland lebenden Autor und Dissidenten Liao Yiwu, Preisträger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2012, der „fassungslos“ über die Vergabe der Auszeichnung an einen „Staatsdichter“ war. Mo ziehe sich, „wenn es darauf ankommt,… in seine Welt der Kunstfertigkeit zurück“ und erhebe sich damit über die Wahrheit.
2009 war China übrigens Gastland auf der Buchmesse Frankfurt und hat sich sehr nett präsentiert, allerdings dürften im Forum Literaturinteressierte jegliche staatsktritischen Schriftsteller vergeblich gesucht haben.
Zunächst beschäftigt mich die Frage, ob Guan Moye als Person den Nobelpreis verdient hat. Dieser soll laut Alfred Nobel „denen zugeteilt werden, die […] der Menschheit den größten Nutzen geleistet haben“. Zwar erkenne ich in Die Schnapsstadt durchaus die ein oder andere Gesellschaftskritik, nicht aber eine kritische Betrachtung des Systems an sich. Ich glaube sogar, dass Moye selber bereits zu einem Teil des Systems geworden ist und lediglich die offizielle Linie gegen Alkoholsucht und Korruption verfolgt. Nicht mehr und nicht weniger. Doch reicht die hochwertige literarische Verpackung dieser politischen Gleichschaltung aus, um den wichtigsten Literaturpreis der Welt zu erhalten? Ich glaube nicht. Ich verstehe den Nobelpreis auch als Verantwortung gegenüber einer Gesellschaft und denke, dass das geschriebene Wort nicht nur seiner selbst willen, sondern auch, gerade bei Schriftstellern aus diktatorischen Ländern, im Zusammenhang mit seinem gesellschaftlich-politischen Umfeld bewertet werden sollte. Im Jahre 2000 erhielt z.B. der Chinese Gao Xingjian den Nobelpreis, der nach seiner öffentlichen Kritik nach der blutigen Niederschlagung der chinesischen Studentenbewegung Anfang Mai 1989 auf dem Tian’anmen-Platz in Peking aus der Partei austrat und von China als „Unperson“ des Landes verwiesen wurde. Dankenswerterweise war er zu diesem Zeitpunkt bereits in Frankreich, sonst wäre er sicherlich in einem chinesischen Staatsgefängnis gelandet, wenn nicht Schlimmeres. Das war dagegen ein verdienter Nobelpreis. Zwar meinten die Chinesen, dieser Schriftsteller sei im eigenen Land nahezu unbekannt, das mag aber auch daran liegen, dass seine chinesischen Leser dank Repressalien vermutlich nicht mehr dazu kamen, über seine systemkritischen Werke zu berichten …
Aber nun zum Buch selber. Die Schnapsstadt ist ein schwer zu lesender Roman. Ihn als inhaltlich anspruchsvoll zu beschreiben, ist eine Untertreibung. Drei Erzählebenen, die zunächst einmal nichts miteinander zu tun haben und anfangs noch deutlich voneinander getrennt sind, verschwimmen mit fortschreitender Handlung zu einem einzigen, surrealen Gebilde, in dem der Sonderermittler Ding Gou’er gänzlich den Bezug zur Realität verliert und letztendlich auch scheitert. Hört sich spannend an, ist es aber nicht. Scheinbar ohne Höhepunkte verliert sich der berühmte rote Faden irgendwo zwischen sonderbaren Geschichten, Alkohol-geschwängerten Briefen und einem ständig Schnaps trinkendem Ermittler (das wären dann auch die drei Erzählebenen). Ich stellte mir allen Ernstes tatsächlich die Frage, ob man besoffen sein muss, um diesem Buch folgen zu können. So kam mir das Lesen denn auch wie ein Vollrausch vor: ein stetiger Wechsel zwischen Passagen mit wachen Momenten des Erkennens einer Handlung und von Passagen voller Lobreden auf den Alkohol, die sich nebelgleich über den Boden der Erzählung legen. Dabei kann ich wirklich nicht behaupten, dass das Buch schlecht geschrieben sei. Ganz im Gegenteil. Man glaubt den Schnaps zu riechen, man glaubt ihn zu schmecken, man glaubt sogar, Ding Gou’ers Benommenheit und Verfall am eigenen Leib zu verspüren. Aber leider ist es auch die Quintessenz dessen, was am Ende von Die Schnapsstadt im Gedächtnis haften bleibt. Sogar eine Inhaltsangabe fällt schwer, da meistens nur verstreut auftauchende Fragmente als tatsächlich handlungsbestimmend identifiziert werden können und man ständig bestrebt ist, das nebulöse Dazwischen irgendwo sinnvoll einordnen zu können. Sicherlich, auch darüber dachte ich während dem Lesen nach, gibt es viele Eigenarten der chinesischen Kultur, die uns befremdlich sind oder wir nur schwer begreifen können, so dass der westliche, gänzlich anders getaktete Leser nur schwer Zugang zu deren Literatur erhält. Nichts desto trotz machte das Lesen stellenweise richtig Freude, was aber mehr der literarischen Geschicktheit und der satirischen Elemente als der inhaltlichen Struktur zuzuschreiben ist.
Fazit: Die Schnapsstadt ist sprichwörtlich hochprozentige Literatur. Wer diesen anspruchsvollen Roman liest und ihn vor lauter Begeisterung nicht mehr aus der Hand legen kann, verdient meinen Respekt. Dem „normalen“ Leser empfehle ich aber, die Finger davon zu lassen. Der Klappentext hört sich vielversprechend an, vermittelt aber nicht wirklich den inhaltlichen Aspekt des Romans, sondern weckt eine eher triviale Erwartungshaltung, die in dieser Form nicht erfüllt wird.
Mo Yan
Die Schnapsstadt
Taschenbuch, 512 Seiten
Verlag: Unionsverlag
ISBN: 978-3293205635