Der junge Odran Yates kommt 1972 an das Priesterseminar in Dublin, nachdem seine Mutter eine Vision hatte, die ihr verriet, dass ihr Sohn zum Geistlichen bestimmt sei. Odran ist voller Eifer dabei und widmet sein Leben der katholischen Kirche, mit der Überzeugung, als Priester viel Gutes tun zu können. Als einer der besten seines Jahrgangs wird ihm sogar die Ehre zuteil, das letzte Studienjahr in Rom verbringen zu dürfen, wo er als persönlicher Diener des Papstes direkt in das Herz des Vatikans dringen kann. Schon damals fallen ihm Unstimmigkeiten innerhalb der Kirche auf, die er allerdings allesamt verdrängt, weil er sich der strikten Kirchen-Hierarchie unterordnet, ohne diese zu hinterfragen. Als er vierzig Jahre später beginnt, seine Geschichte zu erzählen, befindet sich die katholische Kirche Irlands in einer tiefen Krise: allmählich kommen immer weitere Missbrauchsskandale ans Licht, die von den Kirchenoberen immer vertuscht wurden: anstatt sie zu bestrafen, wurden die Pfarrer einfach immer wieder in andere Gemeinden versetzt, wo sie ihre Verbrechen immer wieder begehen konnten. Odran ist, nachdem immer mehr schmutzige Details ans Licht kommen, entsetzt von den Machenschaften seiner Glaubensbrüder und kann kaum glauben, dass all dies jahrelang unbemerkt geschehen konnte. Er beteuert vor sich selbst und dem Leser immer wieder, völlig ahnungslos gewesen zu sein, doch je weiter er in seiner Geschichte fortschreitet und je mehr Details seines Lebens und das seiner Brüder ans Licht kommen, desto mehr wird ihm klar, dass er doch nicht ganz so unschuldig sein kann, wie er selbst es gerne glauben möchte. Nicht nur, dass ihm sein bewusstes Wegsehen immer deutlicher wird, er realisiert auch, dass er dadurch selbst enorm viel Schaden auch in seinem engsten Umfeld verursacht hat …
Dieser Roman Boynes ist sein erster, der in seiner Heimat Irland spielt. Er analysiert überzeugend und treffend die Gefahren der strikten Kirchenhierarchie, der Macht, die die Würdenträger in der Gesellschaft allgemein und in ihren Gemeinden im Kleinen haben und die Art in der diese immer wieder auf Kosten der schwächsten ausgenutzt wurde. Zentrale Akteure sind aber hierbei nicht jene wenige, die sich des Missbrauchs schuldig gemacht haben, sondern gerade die, die sich entweder bewusst dazu entschlossen haben, alles unter den Teppich zu kehren oder wegzusehen, weil sie den schwierigen Weg, sich gegen die strikten Strukturen der Kirchen aufzulehnen entweder aus Bequemlichkeit oder aus Feigheit nicht gehen wollten. Mit einer ungeheuren Wut zeigt Boyne hierbei, dass man sich nicht selbst an einem Kind vergreifen muss, um sich schuldig zu machen, sondern dass jeder, der etwas auch nur im Entferntesten ahnt und dennoch nichts unternimmt, an der Zerstörung von Menschenleben beteiligt ist. So erkennt Odran, dass er, der immer überzeugt davon war, sein Leben einer guten Sache zu widmen, sich selbst von vornherein nur belogen und sich die ganze Zeit in seiner Schulbibliothek versteckt hat und dass all sein Streben völlig umsonst war, weil er sich nicht getraut hat, im entscheidenden Moment zu handeln.
Wie immer bei Boyne ist der Roman stilistisch exzellent und sprachlich gesehen macht das Lesen Spaß, auch wenn die Geschichte und Odrans Ignoranz einen mitunter so wütend machen, dass man das Buch für eine Weile weglegen muss, um sich etwas abzuregen. Wer den Nerv dazu hat, sich mit diesem alles andere als heiteren Thema zu beschäftigen, sollte das Buch unbedingt lesen! Neben der sprachlichen Qualität ist der Roman auch sehr intensiv und gründlich recherchiert und genau das, die Nähe zu den tatsächlichen Ereignissen in Irland, macht ihn noch unglaublicher und lesenswerter.
Weil man niemals wieder anfangen darf, wegzusehen.
John Boyne
Die Geschichte der Einsamkeit
Paperback, 416 Seiten
Verlag: Piper
ISBN: 978-3492060141