Fuminori Nakamura: Der Dieb

Fuminori Nakamura: Der Dieb

Er ist ein Meisterdieb. Ein geschickter Langfinger, der in den überfüllten U-Bahnen Tokios mit kunstvoll fließenden Bewegungen Geldbörsen selbst aus zugenähten Taschen zu entwenden vermag. Doch interessiert ihn weniger der Inhalt derselben, als mehr die Perfektion seines Handwerks, das er mit einer solchen, schon philosophischen Akribie betreibt, dass er es manchmal nicht einmal mehr selbst merkt, wenn er etwas stiehlt. Als er in einem Supermarkt einem kleinen, unbeholfenen Jungen beim Stehlen von Lebensmitteln hilft, wählt dieser den Meisterdieb als Vaterfigur aus. Aufgewachsen mit einer drogensüchtigen Mutter sucht der Junge nach Stabilität, Halt und verbesserten Chancen bei der „Organisation“ von Dingen, die er im täglichen Leben braucht. Der Meisterdieb wird währenddessen von seiner Vergangenheit eingeholt und muss seine Fertigkeiten in den Dienst der Yakuza stellen, dessen Oyabun von ihm bedingungslose Treue und Loyalität einfordert.

Thematisch müsste man Nakamuras Der Dieb eigentlich eher der Rubrik Krimi & Thriller zuordnen, doch diese Geschichte ist so ausgezeichnet geschrieben, dass die Begrifflichkeit „Krimi“ oder gar „Thriller“ schon fast verletzend profan wäre. Ein ungewöhnliches Buch, in dem das Metier des Meisterdiebes mit nahezu poetischer Feder beschrieben wird, ohne jedoch den kriminellen Charakter der Tat zu beschönigen. Wobei dem Schriftsteller es wohl weniger um den Aufbau einer reißerischen Handlung ging, als mehr um die philosophische Auseinandersetzung des Meisterdiebes mit sich selbst und seinem Handeln. Bitte nicht falsch verstehen, das Buch ist sehr spannend und ich habe es an einem Abend bis zur letzten Seite verschlungen, aber einen Thriller im herkömmlichen Sinne sollte man nun wirklich nicht erwarten.

Fuminori Nakamura lässt uns an den philosophischen Gedanken seines Meisterdiebes teilhaben – so nahe, dass wir manchmal das Gefühl bekommen, die Geschichte durch dessen Augen zu verfolgen. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die Ich-Form, in der der Roman geschrieben ist. Diese Nähe zum Protagonisten kenne ich auch von (meinem Lieblingsautor) Haruki Murakami, wobei bei ihm der Leser mehr das Gefühl hat, dem Held während des Lesens über die Schulter zu blicken. Der Dieb scheint mir aber noch mal eine Spur intimer zu sein. Das Besondere an den japanischen Schriftstellern ist meines Erachtens dabei, dass die Gedanken der Protagonisten keine platt niedergeschriebenen Zeilen zu sein scheinen, sondern eine sehr persönliche Analyse von Situationen, Ereignissen und dessen Folgen für ihr eigenes Handeln. Eben eine Spur philosophischer als in den uns vertrauten Krimis der westlichen Welt. Auch der Erzählstil ist typisch: nahezu schnörkellos mit einer Sprache wie klares Wasser, nüchtern, kühl und japanisch präzise. Aber auch mit einer außergewöhnlichen atmosphärischen Dichte.

Der Protagonist ist (wie auch oft bei Murakami) ein entwurzelter Einzelgänger, der in einer modernen Gesellschaft ziellos umhertreibt und in eine ausweglose Situation gerät, die er mit einer fast fatalistischen Einstellung meistern muss. Ich bin aber noch nicht so weit in die Tiefen der japanischen Gegenwartsliteratur eingedrungen, um bestimmen zu können, ob die Protagonisten Einzelgänger sind, weil sie klassische Tugenden annehmen und sich daher von der bunt-blinkenden, technisierten Welt ausgrenzen – zumindest scheitern sie fast immer auf die ein oder andere Weise daran. Manchmal kommt es mir so vor, als ob die Schriftsteller aus dem Land der aufgehenden Sonne auf der Suche nach der neuen, japanischen Identität sind und versuchen, alte gesellschaftliche Werte darin zu finden.

Ein grandioses Buch, das zurecht vom Wall Street Journal als eines der 10 besten Bücher des Jahres 2012 gewählt wurde. Bei uns erschien es als erste deutsche Übersetzung des Schriftstellers Fuminori Nakamura erst im Herbst 2015, obwohl er bereits viele preisgekrönte Bücher geschrieben hat. Ich hoffe, dass der Diogenes Verlag uns noch mit weiteren Büchern von Nakamura erfreut.

Ich konnte mich nur schwer der Faszination dieses unglaublich guten Buches entziehen und möchte es jedem empfehlen, der gerne gute Bücher liest!

Fuminori Nakamura
Der Dieb

Gebundene Ausgabe, 224 Seiten
Verlag: Diogenes
ISBN: 978-3257069457