Nina Jäckle: Der lange Atem

Nina Jäckle: Der lange Atem

"Es war der elfte März, und das Meer atmete aus, ins Land hinein atmete es aus und dann atmete es tief wieder ein."

Am 11. März 2011 um 14:46:23 Uhr Ortszeit bebte die Erde. Vor der Küste der Präfektur Miyagi, in 24 Kilometer Tiefe, etwa 370 Kilometer nordöstlich von Tokio und 130 km östlich von Sendai, nahm eine Katastrophe ihren Anfang, an deren Ende ca. 18.500 Menschen tot waren. Das Tōhoku-Beben und der anschließende Tsunami zerstörte 375.00 Gebäude, eines davon war das Atomkraftwerk Fukushima. Eineinhalb Jahre später hat es sich ein Inspektor, ein früherer Phantombild-Zeichner, zur Aufgabe gemacht, die Gesichter von verstümmelten Leichen zeichnerisch derart zu rekonstruieren, dass für die Identifizierung durch die Angehörigen der Anblick der Opfer zumutbar wird. Der Zeichner widmet den Zeichnungen all sein Können und führt jeden seiner Striche überlegt und mit Bedacht aus, selbst die Reste vom Radiergummi sammelt er in einem Glas – aus Achtung vor den Toten. Eines Tages kommt eine junge Frau mit einem Wunsch auf ihn zu, der den Zeichner in seiner Überzeugung, den Überlebenden zu helfen, erschüttert.

Was uns Nina Jäckle in diesem kleinen Büchlein hinterlassen hat, ist mehr als nur eine Geschichte. Es ist eine Erinnerung, eine Mahnung und eine Aufforderung an die Überlebenden, nicht zu vergessen – aber auch an den Leser, etwas mehr über das Leid anderer Menschen nachzudenken und nicht einfach unbekümmert sein eigenes Leben weiter zu führen, während anderswo noch lange Zeit, nachdem die Geschehnisse aus unseren Nachrichten und den ersten Seiten der Zeitungen verschwunden sind, noch tiefe Wunden offen liegen. Es ist ein sehr emotionaler Blick in eine japanische Seele, die uns mit ihrem Wesen sehr fern, aber in ihrer Trauer doch sehr nah ist. Zugleich birgt sie einen Funken Hoffnung, auch wenn dieser nur schwer greifbar ist. Dieser außergewöhnlich tiefsinnige Roman beschäftigt den Leser noch lange nach dem Umblättern der letzten Seite und vor allem neigt man dazu, sich viele Zeilen nochmals durch zu lesen, die eine fast philosophische Weisheit innehaben.

"Ein Radiergummi hinterlässt niemals weißes Papier."

Der Zeichner, der die Opfer durch das Weglassen verstörender Verstümmelungen wieder menschlich macht, begreift sein Werk dahingehend, dass er durch jeden Strich, den er führt, etwas weglässt. Dieser – auf den ersten Blick empfundene – Widerspruch zieht sich durch die ganze Erzählung und ist in vielen Details wieder auffindbar. Mal im weggeräumten Schutt auf den Straßen, mal in den leeren Straßenzügen, die sich nur langsam wieder mit Gebäuden füllen, mal in der eigenen Wohnungseinrichtung, die als „fremd“ empfunden wird. Jedes neue Gebäude ist ein neuer Strich in der überschwemmten Ebene, der lediglich um so deutlicher macht, was eigentlich fehlt: die vertraute Umgebung, die vertrauten Nachbarn, das vertraute Lachen des toten Nachbarkindes. Selbst die Zeit heilt keine Wunden, da das, was einmal Heimat genannt wurde, nicht mehr wiederherstellbar ist, sondern scheinbar mit einer künstlichen Zukunft übertüncht wird, die keinerlei Vertrautheit mit sich bringt.

Nina Jäckle hat mit „Der lange Atem“ auch einen sprachlich sehr feinen, sehr faszinierenden Roman geschrieben. So treten z.B. viele Gedanken des Protagonisten oftmals nahezu im selben Wortlaut wiederholt auf, so als müsse er sich seine eigenen Worte zur Beruhigung und Rechtfertigung immer wieder in sein Gedächtnis rufen, um nicht selbst bei seiner schwierigen Arbeit verrückt zu werden. Mit ihrer sehr sensiblen Wortwahl und einem unglaublich ergreifenden Einfühlungsvermögen, bei dem die Handlungen und Gedanken des Zeichners auch immer wieder von Erinnerungen an „damals“ unterbrochen werden und beim Leser ein nahezu körperlich spürbares Gefühl des Verlustes auslösen, nimmt uns Nina Jäckle auf eine bedrückend realistische Gedankenreise mit, die in ihrer intimen und ehrlichen Art einzigartig ist.

Es ist ein sehr bedrückendes Buch.
Es ist ein sehr lesenswertes Buch.
Es ist was es ist:
Ein poetisch gelungener, emotionaler Nachruf, der mit sehr viel Achtung vor den Toten geschrieben wurde.

Nina Jäckle
Der lange Atem

Gebundene Ausgabe, 180 Seiten
Verlag: Klöpfer & Meyer
ISBN: 978-3863510770