Es ist das Jahr 1919 und Harry August wird geboren. Aber nicht das erste Mal, denn Harry August wird immer wieder unter den selben Umständen geboren. Das Besondere: er behält dabei alle Erinnerungen an seine vorherigen Leben. Erstaunlicherweise trifft er im Laufe seiner zahlreichen Leben weitere Menschen, die das selbe Schicksal teilen. Gemeinsam sind sie Teil eines Clubs, der unter anderem den Wiedergeborenen hilft, sich nach der Erinnerungsphase in der Kindheit in der Gesellschaft wieder zurecht zu finden, ohne verrückt zu werden. Eines Tages bekommt Harry August in hohem Alter Besuch von einem kleinen Mädchen, das wie er eine Wiedergeborene ist. Bei diesem Besuch überbringt ihm das Mädchen die erschütternde Nachricht vom tragischen Ende der Erde, die in nicht zu ferner Zukunft untergehen wird. Der Grund scheint das egoistische Denken und gewissenlose Vorgehen eines Wissenschaftlers zu sein, der an einer Art göttlicher Maschine herum laboriert. Harry August bekommt die Aufgabe, alles ihm Mögliche zu tun, um die Menschheit einer ihm unbekannten Zukunft zu retten, denn es scheint, als ob August dem Verantwortlichen bereits in einem anderen Leben begegnet ist.
Ich bin echt beeindruckt, denn dieses Buch von Claire North ist durchweg eine gelungene und fesselnde Geschichte. Erstaunlicherweise wird es als Roman verkauft, obwohl es thematisch eindeutig dem Science-Fiction zuzuordnen ist. Wie dem auch sei, Claire North schafft es, einem der ältesten Themen der Menschheit (und dem Science-Fiction) neues Leben einzuhauchen: dem Thema Wiedergeburt/Zeitreise. Eine typische Zeitreise unternehmen wir dabei aber eigentlich nicht, da Harry August ja immer wieder unter den selben Umständen zur selben Zeit am selben Ort geboren wird. Aber auch eine Wiedergeburt im klassischen Sinne findet ja eigentlich im Zeitraum nach dem Tode statt. Sehr interessant auch die Tatsache, dass die Wiedergeborenen sich in ihrer Kindheit (wenn sie Pech haben) auch tatsächlich mit dem „üblichen“ Leben eines Kindes zufrieden geben müssen, wenn sie bis dahin nicht durch die Hilfe des Clubs die Möglichkeit erhalten, sich das durch die Erinnerungen wiederkommende Wissen zu Nutze zu machen. Man muss sich das vorstellen, man ist sechs Jahre alt und trägt das Wissen von mehreren Jahrhunderten Leben in sich … und wird von den unwissenden Eltern am frühen Abend ins Bett geschickt. natürlich – und das bleibt bei Romanen, die mit der Zeit spielen für gewöhnlich nie aus – kommt es zu einigen Paradoxonen, die zu logischen Fehlern (im wissenschaftlichen Sinne) in der Erzählung führen, über die man aber gar nicht zu viel nachdenken sollte, denn Claire North hat sich richtig Mühe gegeben. Dies trifft auf technisch-wissenschaftliche Aspekte ebenso zu, wie auf gesellschaftliche oder politische Zusammenhänge. Ich denke, Claire North hat sich beim Recherchieren viel Mühe gegeben.
Die Handlung selber ist sehr spannend und hat kaum Abrisse. Ein bisschen schwierig wird es manchmal, gerade zu Anfang, die zahlreich eingestreuten Anekdoten aus verschiedenen Leben mit der eigentlichen Handlung in Verbindung zu bringen, doch ergeben alle gewissermaßen einen Sinn, in dem sie die Verbindungen zu Personen, Orten oder Leben herstellen und so die ein oder andere Entwicklung erklären. Auf diese Weise bekommen handlungstragende Protagonisten eine Bedeutung und tauchen nicht einfach aus dem Nichts auf. Harry August selber – und das finde ich sehr schade – hätte in seinem Character ruhig ein wenig persönlicher sein dürfen, denn manchmal ist der Protagonist doch etwas zu „nüchtern“. Zwar setzt er sich mit der Wiedergeburt und der damit einhergehenden Fragen auseinander, aber weniger philosophisch, wie ich es mir wünschen würde. Sagen wir mal so: er setzt sich mehr mit den praktischen Fragen auseinander. Besser fand ich da die charakterliche Dichte in Andreas Eschbachs „Quest“ (> hier die Rezension). Eschbach hat durch die Darstellung einer teilweise schon sehr tiefgreifenden Gedankenwelt seinen Protagonisten weit mehr Leben eingehaucht, als wir es von Harry August in vierzehn Leben mitbekommen. Aber dennoch kann uns Claire North ein stimmungsvolles Bild von Harry August übermitteln, das für das Buch auch – sagen wir mal – ausreichend ist.
Sprachlich sind Die vielen Leben des Harry August auf einem normalen Niveau, die Geschichte selbst aber keine typische SF-Massenware, sondern eine durchdachte und sehr interessante Story, die sicherlich auch den ein oder anderen Genre-fremden Leser anlockt. Die ungekürzte Hörbuchversion wird von Stefan Kaminski gelesen und hervorragend umgesetzt worden – man mag gar nicht mehr die Kopfhörer herunter nehmen. Die vierzehn Stunden waren äußerst kurzweilig. Ich bin aber sicher, dass die Buchversion vielen besser gefallen wird, da man doch mal gerne zur Erinnerung und Verdeutlichung einzelner Zusammenhänge wieder zurück blättert.
Alles in allem ein tolles Buch, das ich mit Begeisterung verschlungen habe und gerne weiter empfehle.
Claire North
Die vielen Leben des Harry August
Gebundene Ausgabe, 496 Seiten
Verlag: Bastei Lübbe (Lübbe Ehrenwirth)
ISBN: 978-3431039306
Ungekürztes Hörbuch
Gesprochen von: Stefan Kaminski
Spieldauer: 14 Std. 08 Min.
Anbieter: Lübbe Audio (ungekürzt exklusiv bei audible)
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