1984. Aomame, wörtlich übersetzt "kleine Erbse", sitzt in einem Tokioter Taxi, hört dabei die Sinfonietta von Janáček und bereitet sich dabei mental auf die vor ihr liegende Aufgabe vor: die stilvolle Ermordung eines reichen Ölhändlers, der seine Frau misshandelt hat. Jedoch gefährdet ein Stau Aomames Zeitplan und so entschließt sie sich, das Taxi aufzugeben und die Autobahn über eine Fluchtreppe zu verlassen. Während sie die Stufen hinab steigt, scheint sich die Welt um sie herum nahezu unmerklich zu verändern und Aomame wird mit einer ihr unbekannten Realität konfrontiert. Sie gibt der neuen Wirklichkeit den Namen 1Q84, da sie zwar glaubt, sich noch immer im Jahre 1984 zu befinden, aber nicht mehr in der Zeit der ursprünglichen, sondern in der einer Parallelwelt. Bestärkt wird ihre Vermutung dadurch, dass sie am Himmel nicht mehr einen, sondern zusätzlich noch einen zweiten, blassgrünen Mond sieht. Zeitgleich bekommt der Mathematiklehrer und erfolglose Schriftsteller Tengo den Auftrag, das literarische Erstlingswerk der seltsamen, 17-jährigen Fukaeri so zu redigieren, dass das Buch einen Literaturpreis erhält. Das Buch erzählt von rätselhaften Wesen, den Little People, die es tatsächlich zu geben scheint und die im Zusammenhang mit einer geheimnisvollen Sekte gebracht werden. Und genauso wie Aomame erlebt auch Tengo sonderbare Ereignisse, die sein Leben regelrecht auf den Kopf stellen. Und ohne es zu wissen, werden beide zu Spielfiguren im selben schicksalshaften Spiel, für dessen Ausgang sie verantwortlich zu sein scheinen.
Haruki Murakami fesselt mit 1Q84 wie gewohnt den Leser respektive Hörer mit einer sehr fantasievollen Geschichte, in der die Protagonisten dank Murakamis Liebe zum Detail sehr viel Leben eingehaucht bekommen und zu greifbaren Charakteren werden. Viele Leser mögen diese Details als langatmig und nebensächlich abtun, doch gerade sie sorgen für die hohe atmosphärische Dichte und füllen die kreative Erzählung mit stimmungsvollen Bildern und Eindrücken. Es ist das, was ein Murakami ausmacht: er beschränkt sich nicht etwa nur auf die Schilderung einer Abfolge von Handlungen, sondern verwebt diese untrennbar mit dem Denken und der Gefühle der darin eingebundenen Personen. Für uns Leser führt diese Art der Erzählung zu weit mehr als nur einem Blick durch ein Fenster in eine fremde Wohnung, sondern es wird zu einem Über-die-Schulter-blicken, bei dem wir einen sehr intimen Kontakt mit den Protagonisten erhalten. Gelegentlich braucht man hier ein wenig mehr Geduld beim Lesen, aber irgendwie ist jedes Detail von Bedeutung und trägt letztendlich auch zum Gesamtbild der Geschichte bei. Ich zumindest kann nicht behaupten, dass dadurch die Spannung gelitten hätte und würde die erzählerische Dichte auch nicht als langatmig bezeichnen. Eher „japanisch“.
Ziemlich japanisch ist auch der Inhalt. Haruki Murakami entführt uns in eine abgedrehte Welt, in der sonderbare Ereignisse den Alltag des Jahres 1984 in die Parallelwelt 1Q84 verwandeln, in der die sogenannten Little People das Schicksal vieler Beteiligten bestimmen. Wer oder was die Little People sind, bleibt für uns Leser ebenso wie für die darin verwickelten Protagonisten lange ein mystisches Geheimnis, aber gerade diese Unwissenheit führt im Verlauf der Geschichte zu der immer bedrückender werdenden Atmosphäre, deren greifbare Spannung uns einfängt und ebenso beschäftigt wie die darin Beteiligten. Und mindestens genauso neugierig bleiben wir an den Zeilen kleben, um heraus zu bekommen, was es mit der Parallelwelt 1Q84 auf sich hat, oder um darauf zu hoffen, dass sich die parallel verlaufenden Wege von Aomame und Tengo doch irgendwann treffen und beider Sehnsucht füreinander nach langer Suche ein glückliches Ende finden möge. Auch das Geheimnis der 17-jährigen Eriko Fukada, auch Fukaeri genannt, und ihrer Geschichte Die Puppe aus Luft steigert unsere Ungeduld auf der Suche nach den Hintergründen der mystischen Parallelwelt 1Q84.
Das „Q“ in 1Q84 steht übrigens für das englische Question mark, dem Fragezeichen.
Wie so oft bei Haruki Murakami hat auch in 1Q84 die Erotik einen festen Platz in der Geschichte und präsentiert sich in seiner gewohnt raffinierten Weise. Murakami ist ein Meister der subtilen Erotik und scheint immer die rechten Worte zu finden, um aus sexuellen Episoden eine Art literarischen Akt zu gestalten, der weder platt noch anstößig wirkt. Zudem werden auch hier die Handlung, die Gedanken und die Gefühle der Partner (manchmal dürfen es auch mal mehr sein) – wie bereits oben in anderem Zusammenhang erwähnt – auf eine untrennbare Weise verwoben und zu einem sehr intimen Erlebnis, an dem wir Leser nahezu aktiv teilhaben. Das liegt wohl auch daran, dass wir Leser die Protagonisten nicht als literarisch körperlose Wesen kennen lernen, sondern nach und nach sehr einfühlsam und plastisch am Aussehen ihrer Körper sowie ihrem Verhältnis zu ihm partizipieren. Murakami nennt dabei die Dinge bei ihrem Namen und baut die Erotik als selbstverständlichen Bestandteil der Geschichte in die Handlung ein, so dass niemals das Gefühl aufkommt, die Szenen scheinen nur um ihrer selbst willen eingestreut zu sein.
Bücher von Haruki Murakami muss man wirklich mögen, um ihn gut zu finden. Sie sind „anders“ als andere Bücher und von einer bemerkenswert hohen, erzählerischen Qualität. Man muss sich auf langatmige und ausführliche Erzählabschnitte einlassen, was sicherlich nicht jedem Leser liegt, aber gerade dieser damit gewonnene Detailreichtum schenkt uns ein unvergleichliches Lese- oder – dank der großartigen Leistung von David Nathan – auch ein wunderschönes Hörerlebnis. Murakamis Geschichten sind für uns ebenso fremdartig wie der Japaner an sich und vielleicht kann man gerade deshalb recht unvoreingenommen in die Erzählung eintauchen und der exotischen, zuweilen skurrilen Fantasie verfallen.
Für Literaturliebhaber ist 1Q84 sicherlich ein „Muss“, daher kann ich dieses Buch auch sehr empfehlen. Oder lieber das Hörbuch? Vielleicht sogar im Auto? In diesem Falle sollten Sie angesichts der ausführlichen Sexszenen darauf achten, die Fenster geschlossen und die Lautstärke nicht zu hoch zu stellen. Vielleicht ist 1Q84 nicht das „Magnus Opus“ von Murakami, aber ein großartiges Buch allemal und ein weiteres Zeugnis dafür, dass Haruki Murakami endlich einen Nobelpreis der Literatur verdienen würde. Ich denke, die Zeit ist reif dafür!
Haruki Murakami
1Q84
Buch 1 & 2
Gesprochen von: David Nathan
Spieldauer: 30 Std. 50 Min.
Version: ungekürzt, Deutsch
Anbieter: Lübbe Audio
Taschenbuch: 576 Seiten
Verlag: btb Verlag
ISBN: 978-3442743636