Opferschutz und Jugendschutz mit Füßen getreten

Opferschutz und Jugendschutz mit Füßen getreten

Nachtrag vom Freitag, 28. November:
Der im Beitrag zitierte Facebook-Nutzer hatte nach meiner Intervention ein Einsehen und löschte heute den in diesem Post kritisierten Beitrag aus seinem öffentlichen Profil.


Montag, 17. November 2014 in Tübingen:
Man sieht eine auf einer Parkbank sitzende, junge Schülerin, schätzungsweise 15/16 Jahre alt, lange blonde Haare, hübsches Gesicht. Im näheren Umkreis befinden sich noch ca. zehn weitere Mädchen, von denen einige – und jetzt wird es richtig hässlich – auf übelste Art und Weise auf die sitzende Schülerin einschlagen, sie verbal erniedrigen und schließlich auf den Boden werfen und ihr brutal in den Brustbereich treten.

Dies ist der Inhalt eines ca. einminütigen, sogenannten „Happy Slapping„-Clips, der von einer beteiligten Schülerin während des Vorfalls mit dem Smartphone aufgezeichnet und in den sozialen Netzwerken verbreitet wurde (die Polizei Tübingen hat wohl auch bereits Ermittlungen gegen die vermeintlichen Täterinnen wegen des Verdachts der Gefährlichen Körperverletzung aufgenommen). Dankenswerterweise gibt es Menschen, die dies nicht gut finden und öffentlich gegen dieses Verhalten protestieren. Mit einer Facebook-Aktion wollen sie das Verhalten der Täterinnen anprangern und bitten um Unterstützung mittels des üblichen „Teilens“. Einer davon ist ein Nutzer Namens „Rescuefilm123“ (Hinweis: Beitrag ist öffentlich, Name des Nutzers geändert).

Was bei dem Videoclip bedenklich stimmen muss: weder das Opfer noch die mutmaßlichen Täterinnen wurden anonymisiert, alle Beteiligten sind klar erkennbar.

Spontan fielen mir die Begriffe „Persönlichkeitsrecht“, „Opferschutz“ und „Jugendschutz“ ein. Mit diesen Hinweisen konfrontierte ich per Kommentarfunktion den Nutzer und wies mit recht deutlichen Worten auf die Befürchtung hin, dass das Opfer sich nun nicht nur mit den physischen und psychischen Folgen des tätlichen Angriffs auseinandersetzen müsse, sondern auch noch dem Cybermobbing ausgesetzt ist. Das Mädchen ist auf dem Film deutlich erkennbar und ist vom näheren Umkreis (Klasse, Schule, Freundeskreis, Bekannte) mit Sicherheit auch identifizierbar.

Doch wie reagiert der Nutzer „Rescuefilms123“? Anstatt sich mit der Kritik auseinander zu setzen, löscht er meine Kommentare und sperrt mich für eine weitere Diskussion. Für mich ein Zeichen dafür, dass es ihm nicht um Opferhilfe geht, sondern um reine Sensationsgier und möglichst viele „Likes“. Der im Beitrag enthaltene Clip wurde wohl von einem jugendlichen Rapper bearbeitet und mit kritischen Kommentaren versehen. Er wusste es wohl nicht besser und hatte den guten Gedanken, eine üble Straftat publik zu machen. Jedoch hat der Nutzer „Rescuefilms123“, der als kommerzieller Websitenbetreiber nach aktueller aber einhelliger Meinung in der Rechtslehre und Rechtsprechung wohl dem Presserecht unterliegt, objektiv geltendes Recht in vielerlei Hinsicht verletzt und viele Punkte des vom Presserat im Jahre 1973 verabschiedeten Pressekodex, der journalistisch-ethische Grundregeln definiert, mit der Weiterverbreitung dieses Videoclips ignoriert. Er wirbt mit der Erstellung von Film- und Fotoaufnahmen von Hilfseinsätzen (respektive betreibt er eine gewerbliche Website) und muss sich daher mit der Rechtslage auseinandersetzen (z.B. Art 5 GG Absatz 2). Doch offensichtlich werden soziale Netzwerke von vielen Nutzern als rechtsfreier Raum begriffen.

Daher möchte ich mal folgende Auszüge, insbesondere die Punkte 8.2, 8.3, 11 und 13 aus dem Pressekodex des Presserates hervorheben:

Ziffer 1 – Wahrhaftigkeit und Achtung der Menschenwürde
Die Achtung vor der Wahrheit, die Wahrung der Menschenwürde und die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit sind oberste Gebote der Presse. Jede in der Presse tätige Person wahrt auf dieser Grundlage das Ansehen und die Glaubwürdigkeit der Medien.

Ziffer 8 – Schutz der Persönlichkeit
Richtlinie 8.1 – Kriminalberichterstattung
(1) An der Information über Straftaten, Ermittlungs- und Gerichtsverfahren besteht ein berechtigtes Interesse der Öffentlichkeit. Es ist Aufgabe der Presse, darüber zu berichten.

(2) Die Presse veröffentlicht dabei Namen, Fotos und andere Angaben, durch die Verdächtige oder Täter identifizierbar werden könnten, nur dann, wenn das berechtigte Interesse der Öffentlichkeit im Einzelfall die schutzwürdigen Interessen von Betroffenen überwiegt. Bei der Abwägung sind insbesondere zu berücksichtigen: die Intensität des Tatverdachts, die Schwere des Vorwurfs, der Verfahrensstand, der Bekanntheitsgrad des Verdächtigen oder Täters, das frühere Verhalten des Verdächtigen oder Täters und die Intensität, mit der er die Öffentlichkeit sucht.

Richtlinie 8.2 – Opferschutz
Die Identität von Opfern ist besonders zu schützen. Für das Verständnis eines Unfallgeschehens, Unglücks- bzw. Tathergangs ist das Wissen um die Identität des Opfers in der Regel unerheblich. Name und Foto eines Opfers können veröffentlicht werden, wenn das Opfer bzw. Angehörige oder sonstige befugte Personen zugestimmt haben, oder wenn es sich bei dem Opfer um eine Person des öffentlichen Lebens handelt.

Richtlinie 8.3 – Kinder und Jugendliche
Insbesondere in der Berichterstattung über Straftaten und Unglücksfälle dürfen Kinder und Jugendliche bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres in der Regel nicht identifizierbar sein.

Ziffer 9 – Schutz der Ehre
Es widerspricht journalistischer Ethik, mit unangemessenen Darstellungen in Wort und Bild Menschen in ihrer Ehre zu verletzen.

Ziffer 11 – Sensationsberichterstattung, Jugendschutz
Die Presse verzichtet auf eine unangemessen sensationelle Darstellung von Gewalt, Brutalität und Leid. Die Presse beachtet den Jugendschutz.

Richtlinie 11.1 – Unangemessene Darstellung
Unangemessen sensationell ist eine Darstellung, wenn in der Berichterstattung der Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, herabgewürdigt wird. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn über einen sterbenden oder körperlich oder seelisch leidenden Menschen in einer über das öffentliche Interesse und das Informationsinteresse der Leser hinausgehenden Art und Weise berichtet wird.
Bei der Platzierung bildlicher Darstellungen von Gewalttaten und Unglücksfällen auf Titelseiten beachtet die Presse die möglichen Wirkungen auf Kinder und Jugendliche.

Richtlinie 11.2 – Berichterstattung über Gewalttaten
Bei der Berichterstattung über Gewalttaten, auch angedrohte, wägt die Presse das Informationsinteresse der Öffentlichkeit gegen die Interessen der Opfer und Betroffenen sorgsam ab. Sie berichtet über diese Vorgänge unabhängig und authentisch, lässt sich aber dabei nicht zum Werkzeug von Verbrechern machen. Sie unternimmt keine eigenmächtigen Vermittlungsversuche zwischen Verbrechern und Polizei.

Und da wir in einer Demokratie und Rechtsstaat leben, sollte ich natürlich auch noch diesen Punkt hervorheben, auch wenn es mir manchmal selber schwer fällt:

Ziffer 13 – Unschuldsvermutung
Die Berichterstattung über Ermittlungsverfahren, Strafverfahren und sonstige förmliche Verfahren muss frei von Vorurteilen erfolgen. Der Grundsatz der Unschuldsvermutung gilt auch für die Presse.

Richtlinie 13.1 – Vorverurteilung
Ziel der Berichterstattung darf in einem Rechtsstaat nicht eine soziale Zusatzbestrafung Verurteilter mit Hilfe eines „Medien-Prangers“ sein. Zwischen Verdacht und erwiesener Schuld ist in der Sprache der Berichterstattung deutlich zu unterscheiden.

Besonders interessant wurde es für mich aber erst, als ich die Webseite des Nutzers „Rescuefilms123“ besuchte. Dort wird der Anschein erweckt, dass zur Unterstützung von Hilfsorganisationen Filme von Events und Übungen gedreht würden. Zunächst ein guter Gedanke, aber dann entpuppte sich die „Non-Profit“-Idee als Deckmantel für „professionelle“ Film- und Fotoaufnahmen von Einsätzen (Preise auf Anfrage …). Mit der Abbildung der Logos gemeinnütziger Hilfsorganisationen wird also eine kostenpflichtige Dienstleistung angeboten. Mir ist natürlich klar, dass meine Kritik am besagten Artikel in diesem Falle auf Unmut seitens dieses Websitebetreibers stoßen mag, doch Fakt ist: es fehlt ganz offensichtlich an den rechtskonformen Angaben für ein korrektes Impressum dieses gewerblichen Auftritts (zum Beispiel der Nennung der Rechtsform des Unternehmens, des redaktionell Verantwortlichen nach dem Telemediengesetz, einer entsprechend rechtsgültigen Datenschutzerklärung und einem rechtlich sinnvollen und haltbaren Haftungsausschluss für Fremdinhalte, dem sog. „Disclaimer“).

Das ist in meinen Augen echt das Letzte! Wer offensichtlich aus Profitgier und Sensationslust einen solchen „Happy Slapping„-Clip teilt, sich mit dem Fähnchen der Unterstützung von Hilfsorganisationen schmückt und Kritik an der Veröffentlichung einfach löscht, ist in meinen Augen keinen Deut besser als die vermeintlichen Täterinnen. Zudem halte ich es für ethisch äußerst bedenklich – deutlicher: ziemlich pervers – wenn sogenannte „Likes“ als verkaufsfördernde Maßnahme eingesetzt, und die Videoclips mit den Opferdarstellungen somit als „Werbemittel“ instrumentalisiert werden.

Daher meine inständige Bitte:
Teilt solche Clips nicht, denn sie nutzen den Opfern nicht nur nichts, sondern schädigen sie noch zusätzlich, während die Täter sich ihres zweifelhaften Ruhmes sicher sein können und durch die Verbreitung ihrer „Werke“ in ihrem fehlgeleiteten, kriminellen Denken und Handeln noch bestärkt werden.

 

Zur Rechtslage hier noch Infos zum Nachlesen:

› „Happy Slapping“ – Strafrechtliche Relevanz und präventiver Umgang
› Der Pressekodex des Presserates
› Basiswissen Journalismus: Presserecht für Journalisten und Blogger

Eigentlich wollte ich NICHT den entsprechenden Beitrag verlinken, da ich gegen eine weitere Verbreitung bin, aber auch hier hat der Pressekodex klare Worte gefunden:

Ziffer 16 – Rügenveröffentlichung
Richtlinie 16.2 – Art und Weise der Rügenveröffentlichung
Rügen sind in den betroffenen Publikationsorganen bzw. Telemedien in angemessener Form zu veröffentlichen. Die Rügen müssen in Telemedien mit dem gerügten Beitrag verknüpft werden.

In diesem Sinne und mit echtem Widerwillen und daher auch ohne aktive Verlinkung:

Hinweis: Der Beitrag wurde am 28. November 2014 gelöscht und ist nicht mehr aufrufbar.
https://www.facebook.com/rescuemovies112.de/timeline (Beitrag vom 20. November 2014)