Eric-Emmanuell Schmitt: Odysseus aus Bagdad

Eric-Emmanuell Schmitt: Odysseus aus Bagdad

Saad Saad wird in Bagdad geboren, an dem Tag, an dem Saddam Hussein sein erstes graues Haar entdeckt und seine schlechte Laune darüber seine Tyrannei noch schlimmer macht. Saad ist das jüngste Kind der Familie und der einzige Sohn, deshalb zunächst von allen Seiten verwöhnt. Dann stört sich der Westen plötzlich an Hussein und seinem Streben nach immer mehr Macht und es wird ein Embargo gegen den Irak verhängt. Damit beginnt der Abstieg des Landes: den Leuten fehlt es zunehmend an grundlegenden Dingen des Alltags, die Armut und die Kriminalität steigen. Als die USA beschließen, nach Afghanistan auch den Irak zu „befreien“ sehnen sich viele Einheimische nach dem Einmarsch der Amerikaner. Allerdings werden sie schon sehr bald desillusioniert, denn die USA stürzen zwar den Diktator, was danach zurückbleibt ist nichts weiter als ein idealer Nährboden für allerlei extremistisches Gedankengut, das schon sehr bald dazu führt, dass bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen. Saad verliert seinen Vater, all seine Schwager, Neffen und Nichten (von denen die letzte in seinen Armen an einer Blutvergiftung stirbt). Aus vollkommener Hoffnungslosigkeit heraus, befiehlt seine Mutter ihm, sich auf den Weg nach Europa zu machen, sich dort Arbeit zu suchen und der Familie wenigstens gelegentlich Geld zu schicken. Dem jungen Mann ist von Anfang an klar, dass dies nicht einfach wird, da er zuerst nach Kairo gelangen und von dort aus einen Weg über das Mittelmeer finden muss. Die UN-Sachbearbeiterin scheint auch zunächst Mitleid mit ihm zu haben, bis er den Fehler macht, zu erwähnen, dass der Irak seit der „Befreiungsaktion“ vollständig im Chaos versinkt und ein Leben dort unmöglich macht. Dieser Aspekt scheint überhaupt nicht in das Weltbild der Dame zu passen und so wird sein Asylantrag abgelehnt und Saads einzige Hoffnung ist der illegale Weg, den ihm die Menschenschlepper ermöglichen. Abgerutscht in die Kategorie des „illegalen Menschen“, den Schleppern vollkommen ausgeliefert, gerät Saad auf einen Kutter, der vollkommen überladen über das Mittelmeer fährt, kurz vor der Küste sinkt und fast alle Passagiere mit in Tiefen des Meeres reißt. Saad überlebt und landet im lang ersehnten Europa, wo die Flucht kontinuierlich weitergeht…

In die aktuelle Debatte um Bürgerkriege und Menschen, die Schutz in anderen Ländern suchen, hat Schmitt ein an Homer angelehntes Epos der Flucht und Hoffnung, Erwartung und Enttäuschung geworfen, das die schlimme Situation eines jungen Mannes zeichnet, der alles auf sich nimmt, um seine Familie nicht vollständig auslöschen zu sehen. Immer wieder werden Saad Worte in den Mund gelegt, die deutlich machen, wie absurd die Kategorisierung der Menschen in solchen Situationen ist. Bereits auf der ersten Seite bemerkt er:

„Bei der Lotterie der Geburt zieht man ein gutes oder ein schlechtes Los. Wenn man in Amerika, in Europa oder in Japan zur Welt kommt, dann nimmt man seinen Platz ein, und fertig: Man wird geboren, und damit hat sich’s, es wird nicht nötig sein, irgendwann noch einmal von vorne anzufangen. Aber wenn man in Afrika oder im Nahen Osten das Licht der Welt erblickt…“

Natürlich gibt es auch in den genannten Ländern Menschen, die auswandern, doch um ihr Leben und das ihrer Familie bangen muss kaum jemand, aber das Leben, das man tendenziell führt, ist abhängig von purem Glück, am richtigen Ort geboren zu sein, ein Faktor, der zufälliger nicht sein könnte. Was Schmitt mit dem Roman immer wieder anstößt ist nichts weniger als die Frage, er berechtigt ist, ein gutes Leben zu führen und wer nicht. Dass ihm das Recht verwehrt werden soll, kann und will Saad nicht akzeptieren und er riskiert lieber alles, als sich damit abzufinden. Natürlich macht ihn das zuweilen zynisch und verbittert, so wie es jeden in dieser Situation zynisch und verbittert machen würde, die Hoffnung gibt er allerdings trotz allen Dingen, die er erleben muss, nicht auf. Thematisiert wird auch immer wieder der Umgang der Menschen miteinander: auf seiner Reise trifft Saad Menschen, die vom Elend profitieren wollen, solche, die demonstrativ wegsehen, aber auch jene, die alles riskieren, um ihm und anderen in seiner Situation zu helfen und ihnen ein neues, „legales“ Leben zu ermöglichen.

Was ich besonders bemerkenswert finde, ist, dass Schmitt es schafft, auch heitere, schöne Momente in diese tragische Geschichte zu weben. Auch klagt er niemals an, er erzählt auf eine Weise, die zum Nachdenken anregen soll, ohne vorzuschreiben, in welche Richtung diese Gedanken gehen sollen. Saad als Figur ist kein unschuldiger Heiliger, er ist eine alltägliche Person mit Fehlern, die in ihrer Hilflosigkeit auch die ein oder andere dumme Entscheidung trifft. Man fiebert mit ihm, schüttelt über seine Naivität gelegentlich den Kopf und manchmal möchte man ihn einfach nur durchschütteln, um ihn wieder zur Vernunft zu bringen. Egal, wie man zu Saad und seinen (fiktiven und realen) Leidesgenossen steht, kalt lässt einen dieses Buch niemals. Wie alle Werke von Eric-Emmanuel Schmitt stößt auch dieses einige Gedanken an, die jeder sich ab und an stellen sollte, was ihn meiner Meinung nach zu einem wichtigen poetischen Philosophen (oder philosophischen Poeten) unserer Zeit macht, der es immer wieder schafft, die richtigen Töne zu aktuellen Problemen zu treffen und das ist es, was ganz große Literatur ausmacht!

Eric-Emmanuel Schmitt
Odysseus aus Bagdad

Taschenbuch, 304 Seiten
Verlag: Fischer Taschenbuch
ISBN: 978-3596192663