Michael Cunningham: Die Schneekönigin

Michael Cunningham: Die Schneekönigin

(Der Klappentext ist so schön, dass ich ihn nicht durch eine eigene, unzureichende Inhaltsangabe verhunzen will …)
Der New Yorker Stadtteil Bushwick liegt jenseits von Brooklyn. In dieser Gegend sind die Mieten noch einigermaßen bezahlbar, die Häuser alt und die Leute nicht ganz so schick. Hier teilen sich die Brüder Tyler und Barrett eine Wohnung mit Tylers großer Liebe Beth, die unheilbar an Krebs erkrankt ist und um die sie sich beide aufopferungsvoll kümmern. Sie sind in den sogenannten besten Jahren und können es noch nicht ganz glauben, dass sich ihre Träume niemals erfüllen werden: Tyler, ein genialer Musiker, steht immer noch ohne Band und ohne Erfolg da. Aber er wird, das nimmt er sich vor und dafür sucht er sich heimlich Inspiration beim Kokain, das ultimative Liebeslied für Beth komponieren, ja, er wird es ihr bei der geplanten Hochzeit vorsingen … Barrett, fast Literaturwissenschaftler, fast Startup-Unternehmer, fast Lord Byron, verkauft Secondhand-Designerklamotten in Beths Laden und trauert seinem letzten Lover nach, der ihn gerade schnöde per SMS abserviert hat. Als Beth sich wider alle Erwartungen zu erholen scheint, glaubt Tyler umso mehr an die Kraft der Liebe, während der Exkatholik Barrett sich fragt, ob das merkwürdige Licht, das er eines Nachts im Central Park am winterlichen Himmel sah, nicht doch irgendwie eine göttliche Vision gewesen sein könnte …

Cunningham setzt geschickt Motive aus dem Andersen-Märchen in seinem Roman ein und nach dem Lesen erliegt man auch der Frage, welche Figur des Märchens wohl welcher des Romans entspricht. Parallelen lassen sich einige finden, denn wie Gerda auf der Suche nach Kay scheinen auch Tyler, Barrett, Beth, Liz und alle anderen Beteiligten danach zu streben, das große Ziel im Leben nicht aus den Augen zu verlieren. Aber jeder trägt seine Spiegelsplitter im Herzen oder im Auge mit sich herum. Und so, mal melancholisch, stellenweise auch mal traurig, aber auch mit einer gewaltigen Prise Ironie, versuchen die Protagonisten, ihre aktuelle Lebenssituation zu ergründen und zu begreifen. Dabei verstecken sich die Reflektionen innerhalb alltäglicher Begebenheiten und scheinbar banaler Gespräche, in denen die Zeit nur langsam verrinnt, um der/dem Außenstehenden die Möglichkeit zu eröffnen, in die Gedankenwelt der Beteiligten zu blicken. Und ganz so, als erkenne man den Winter erst durch die intensive Betrachtung einzelner Schneeflocken, ergänzen sich die wenigen Handlungsfragmente gemeinsam mit den gedachten Retrospektiven, Resümees und Vorsätzen der Protagonisten zu einer tiefsinnigen Geschichte über die Erkenntnis des Scheiterns und den Mut zum Neuanfang.

Was für ein wunderschönes Buch. Wunderbar poetisch mit kreativen Metaphern und Allegorien, die so entzückend sind, dass man sie einfach mehrmals lesen muss. Cunningham hat mit dem Roman Die Schneekönigin einen brillant geschriebenen Lesegenuss geliefert, der das Herz berührt und zum Nachdenken anregt. Unbedingt Lesen!

Michael Cunningham ist ein US-amerikanischer Buch- und Drehbuchautor. Für seinen 2002 erschienenen Roman Hours erhielt er bereits den Faulkner-Award und den Pulitzer Preis. Die Verfilmung mit Nicole Kidman, Meryl Streep und Julianne Moore wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit einem Oskar für Nicole Kidman. Neben seiner Arbeit als Schriftsteller unterrichtet Cunningham das Fach Creative Writing an der Columbia University NY.

Michael Cunningham
Die Schneekönigin

Gebundene Ausgabe, 288 Seiten
Verlag: Luchterhand Literaturverlag (23. Februar 2015)
ISBN: 978-3630874586