Sumire, Anfang zwanzig und reichlich weltfremd, findet sich noch nicht im Leben zurecht und träumt davon, eine Existenz als erfolgreiche Schriftstellerin zu führen. Ein nur wenig älterer Junglehrer verliebt sich in die begehrenswerte junge Frau, doch scheitert sein Verlangen an ihrem Unvermögen, seine Gefühle zu erkennen, und so wird er zum Spielball ihrer nächtlichen Anrufe um seelischen Beistand und mitternächtlicher Lebensberatung. Während der Lehrer seine eigene Begierde zu bremsen versucht, lernt Sumire die 35-jährige, erfolgreiche Geschäftsfrau Miu kennen und verliebt sich Hals über Kopf in sie. Miu wiederum sieht in Sumire nur wenig mehr als eine vielversprechende Sekretärin und stellt Sumire ein, um sie auf ihren Geschäftsreisen zu begleiten. Während eines freien Wochenendes, das die beiden Frauen auf einer griechischen Insel verbringen, gesteht Sumire Miu ihre Liebe und muss aber feststellen, dass Miu zwar eine gewisse Zuneigung, aber keinerlei sexuelles Interesse für sie empfindet. Daraufhin verschwindet Sumire auf mysteriöse Weise spurlos. Miu ruft den Junglehrer in Japan zu Hilfe und bittet ihn darum, ihr in Griechenland auf der Suche nach Sumire zu unterstützen.
Für all‘ diejenigen, die jetzt denken, dass sich diese erste Zeilen sich ganz massiv nach einer Groschenroman-Schmonzette anhören: Es ist ein typischer Murakami! Eine seiner Erzählungen, in der sich cooler Realismus und eine kreative Fantastik zu einer unglaublich feinen und tiefsinnigen Komposition vereinigen, aus der man beim Lesen ganz zarte Aromen nach Schicksal, Hoffnung und Erotik herausschmecken kann. Ganz zart, wohlgemerkt, denn vordergründig bekommen wir tiefe Einblicke in das Seelenleben der Protagonisten, die zwar wie Satelliten um einen gemeinsamen Planeten kreisen, sich aber niemals so nahe kommen, wie sie es sich selbst wünschen würden. In diesem Zusammenhang wählt Sumire auch sehr passend den Namen Sputnik als Kosename für ihre geliebte Miu.
Murakami beschreibt im Buch selber die verfahrene Situation dieser Dreiecksbeziehung mit folgenden Worten:
„[…] und es fiel mir schwer, zwischen Realität und Schein zu unterscheiden. Da saß ich nun auf einer winzigen griechischen Insel mit einer schönen älteren Frau, die ich erst gestern kennen gelernt hatte, und frühstückte. Diese Frau liebte Sumire, war jedoch außerstande, sie sexuell zu begehren. Sumire liebte und begehrte diese Frau. Ich wiederum liebte und begehrte Sumire. Sumire dagegen hatte mich zwar sehr gern,war aber weder in mich verliebt noch begehrte sie mich. Ich meinerseits begehrte eine verheiratete Frau, die ich jedoch nicht liebte. Die Lage war höchst verzwickt […]“ (1).
Den Namen des bedauernswerten Lehrers und Ich-Erzählers erfahren wir leider nicht, vielleicht hätten wir ihm irgendwie helfen können, doch wie so oft bei Murakami geraten seine Protagonisten vollkommen unverschuldet und scheinbar arglos in schicksalshafte Ereignisse, denen sie sich nicht entziehen können (2). Wir als Leser auch nicht, denn Murakamis Art, Geschichten zu erzählen, macht süchtig.
Sehr positiv aufgefallen ist mir übrigens der Umgang mit dem Thema Homosexualität. Sumire, die sich nie in ihrem Leben für andere Frauen interessiert hat, akzeptiert ihre Liebe zu Miu und nimmt die Tatsache einer möglichen, gleichgeschlechtlichen Liebesbeziehung mit einer erfreulich unkomplizierten Leichtigkeit an. Sie denkt keine Sekunde schlecht darüber oder versucht ihre Zuneigung in irgendeiner Weise zu rechtfertigen, sondern macht sich diese mit einer achselzuckenden Selbstverständlichkeit zu eigen. Wenn sie sich in Miu verliebt hat, dann ist es halt so, selbst wenn sie durch diese Liebe unbekanntes Terrain betritt und möglicherweise alles verlieren könnte (wie sie es selbst so ungefähr sagt). Auch der junge Lehrer, unser Erzähler, bringt uns diese Beziehung auf eine unvoreingenommene Art und Weise nahe, die wir im wahren Leben leider vermissen.
Ein zutiefst beeindruckender und bewegender Roman, der uns gerade auf den letzten Seiten eine schon philosophische Betrachtung über den Verlust und das Scheitern liefert und uns mit manchen Fragen zurück lässt – im positiven Sinne. Insgesamt eine sehr gefühlvolle, sehr spannende, sehr bizarre und tiefgehende Erzählung …
… und sehr „murakamisch“. Lesenswert mir dem Prädikat wertvoll!
Haruki Murakami
Sputnik Sweetheart
Taschenbuch, 234 Seiten
Verlag: DuMont; Auflage: 1 (18. Februar 2010)
ISBN: 978-3832161002
Titel der japansichen Originalausgabe:
Suputoniku no koibito, Kodansha Ltd. Tokio, 1999
(1) Haruki Murakami: Sputnik Sweetheart. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe ©2002, > DuMont Buchverlag Köln, S. 139. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages.
(2) Siehe auch: > Haruki Murakami: Die unheimliche Bibliothek vom 12. Juli 2015