An einem sehr heißen Sommertag, den er mit Mutter, Schwester und bestem Freund in einem Haus auf dem Land verbringt, geht der 19-jährige Felix los, um sich eine Cola und neues Müsli zu besorgen. Als er am nächsten Tag immer noch nicht wieder aufgetaucht ist, wird den dreien, die er zurückließ, klar, dass er verschwunden sein muss. Zehn Jahre später trifft Paul, Felix‘ bester Freund, in Prag auf einen Mann, der Felix zwar nicht sofort ähnlich sieht, aber die selbe Mimik, Gestik und Haltung hat. Auch behauptet er, vor einigen Jahren vollkommen ohne Erinnerung aus der Moldau gezogen worden zu sein. Paul ist überzeugt davon, seinen lange verschollenen Freund gefunden zu haben und überredet ihn, nach Berlin zu kommen, um seine vermeintliche Schwester Louise zu treffen. Diese hält Paul zunächst für vollkommen verrückt, weil sie absolut keine Ähnlichkeit zu ihrem Bruder erkennen kann, doch nach und nach sieht auch sie in dem fremden Mann, der sich Ira Blixen nennt, Felix. Als es aufgrund ihrer Überzeugung, ihren verschollenen Bruder endlich gefunden zu haben, zum Streit zwischen Louise und ihren Mitbewohnern kommt, finden sich Paul, Blixen und Louise als Wohngemeinschaft in Felix‘ kleiner Wohnung wieder. Doch schon bald bemerken Paul und Louise, dass irgendetwas mit Blixen nicht stimmt: er verhält sich sehr sonderbar, leugnet ohne offensichtlichen Grund völlig banale Dinge getan zu haben und immer wieder verschwinden Dinge aus der Wohnung. Nach und nach wird die Stimmung immer bedrückter und Paul und Louise werden allmählich verzweifelt, denn obwohl sie sicherer werden, dass der Mann nicht Felix sein kann, weiß er doch Details aus ihrem gemeinsamen Leben mit Felix, von denen er eigentlich gar nichts wissen dürfte und Schritt für Schritt gerät die Sachea aus dem Ruder …
Katharina Hartwell hat einen durchaus spannenden Roman über das Festhalten und Loslassen nach einem ungeklärten Verlust geschrieben. Die größte Schwierigkeit, mit der sich die Beteiligten konfrontiert sehen, ist, dass die verschwundene Person mehr oder weniger ihr Leben zusammengehalten hat und dass es nach dem Verlust allmählich zu zerfasern beginnt. Weder Paul noch Louise wissen so recht, in welche Richtung ihr Leben gehen soll, beide driften immer nur umeinander und somit um den Schatten, den Felix zwischen ihnen hinterlassen hat und somit hat Blixen leichtes Spiel, sie beide zu manipulieren. Der Roman zeigt die enorme Verletzlichkeit zweier Menschen, die jemanden zum Mittelpunkt ihres Lebens gemacht haben, der plötzlich weg war und eine Leerstelle hinterlassen hat, die beide nicht zu füllen wissen. Beide haben ihre Identität auf gewissen Weise von Felix abhängig gemacht und beide haben Schwierigkeiten, sich nach dessen Verschwinden neu zu positionieren.
Der Plot und die Thematik des Buches sind gut gelungen, auch die Spannung und das Beklemmungsgefühl, das die gesamte Situation umgibt, sind gut wiedergegeben. An dieser Stelle muss ich leider ein „aber“ einfügen, ich finde die Figuren nämlich allesamt ein wenig over the top. So richtig Empathie empfindet man trotz ihres offensichtlichen Leidens für keinen von ihnen, sowohl Paul mit seinem unaufhörlichen Wollen, als auch Louise mit ihrer trotzigen Naivität, als auch Felix‘ und Louises Mutter Agnes mit ihren ständigen Urteilen zu allem und jedem sind anstrengend, fast schon nervig. Ein bisschen erinnert es mich an Paul Thomas Andersons Film The Master, der vor anstrengenden Figuren nur so strotzt und keine Identifikationspunkte bietet. An sich finde ich das keinen schlechten künstlerischen Handgriff, es macht es nur schwierig, sich in die Geschichte hinein zu versetzen. Man bleibt immer auf einer gewissen Distanz und muss sehr viel Fantasie aufbringen, um Empathie mit den Hauptfiguren zu empfinden. Mag sein, dass andere Leser da anderer Meinung sind, der Bezug zu Figuren ist ja immer höchst individuell, ich für meinen Teil hatte jedenfalls einige Probleme mit den Charakteren, was der Spannung etwas die Luft heraus genommen hat. Für Widerspruch dazu bin ich allerdings immer offen, die Charaktere nimmt jeder Leser schließlich anders wahr.
Fans des psychologischen Romans mit beklemmender Stimmung und schwierigen Charakteren dürften hier voll auf ihre Kosten kommen, meine Sache ist das allerdings nicht.
Katharina Hartwell
Der Dieb in der Nacht
Hardcover, 320 Seiten
Verlag: Berlin Verlag
ISBN: 978-3827012791